Ich habe eine sehr liebe, alte Freundin, die ich kenne, seitdem ich ungefähr 7 Jahre alt war. Wir haben die gesamte Schulzeit miteinander verbracht und sind sehr eng miteinander befreundet. Diese tolle Frau habe ich seit vor Silvester nicht mehr gesehen. Das haben wir daran gemerkt, dass sie letztens zum Kaffee erschienen ist und mir ein Neujahrsgeschenk mitgebracht hat. Genau, im Juni. Und nun kommt’s endlich: Das Geschenk war ein Familienkalender mit klugen Sprüchen von Jesper Juul. Wer jetzt laut und hämisch auflacht, ist auf dem falschen Dampfer.
Ich liebe Jesper Juul, ich finde es großartig, was er sagt, nur mir kommt meistens das Leben dazwischen
Also hab ich mir gedacht, ich könnte ja mal irrwitziges, nachdenkliches und gänzlich unrühmliches von meinen Jesper Juul-Versuchen erzählen oder zumindest ein paar Mama notes zum Satz des Tages auf meinem Blog dalassen.
Ziel wäre es, jeden Tag ein kurzes Jesper Juul Zitat zu posten, mit meinen Notizen dazu. Wärt Ihr dabei? Ich nenne es „Mama notes on Jesper Juul“ (Mama-Notizen über Jeser Juul). Es ist schräg, wenn es plötzlich Englisch wird, aber „Mama notes“ war erst nur mein Twitter Handle und ich hatte ja keine Ahnung, als ich mein Blog so nannte. Also:
Wenn Eltern Kindern Zeit lassen können, lassen sich viele sinnlose und kraftraubende Konflikte vermeiden.
Kann man mit einem klaren „YO!“ abnicken. Ist aber ein klassischer Mama notes-Juul-Konflikt, weil: klappt nicht. Es gibt Millionen Beispiele. Morgens anziehen, frühstücken und pünktlich los. Es könnte so einfach sein, wenn wir perfekter wären. Aber leider sind wir morgens müde, unfit, sehr langsam im Kopp und überhaupt. Irgendwann ist es spät und die Kinder sind noch nicht gewaschen oder angezogen oder beides. .Zeit lassen können ist dann nicht, lieber Jesper! Und dann haben wir kraftraubende Konflikte, aber hallo! Es gibt auch Morgende, an denen wir Juulartige Zustände haben, dochdoch, aber die sind selten.
Ja, ich wünschte, ich könnte den Kindern Zeit lassen beim Anziehen, sie in Ruhe selbst machen lassen, sie trödeln und den Grund, warum sie im Bad mit Waschlappen in der Hand stehen, vergessen lassen. Es geht aber nicht und es ist mir dann auch egal. Total egal. Auf ein, „Oh Mist, ich lasse meinen Kindern zu wenig Zeit, ich schlächte Muttaaaa“ habe ich keine Lust. Pöh.
Wenn wir Eile haben, dann ermahne ich halt ein, zwei Mal „Wasch Dich jetzt bitte!“ und wenn es nicht klappt, wasche ich, kämme, ziehe Shirts über den Kopf und nehme das Kind an die Hand und leite es die Treppe hinunter, obwohl es noch mit den Sandkörnchen spielen will, weil: wir sind spät dran. Basta.
Ich glaube einfach nicht, dass es Kindern schadet, wenn sie mitbekommen, was Eile oder Termine sind. Sie sind ja nicht verloren in der Situation, sondern werden von mir da durch begleitet, sie dürfen so viel selbst machen, wie es geht. Schon allein, weil ich zu faul wäre, die Kinder komplett fertig zu machen.
Unrühmlicherweise geht das oft tagelang so. Morgens mahne ich zur Eile, in der Kita beim Umziehe, beim Abholen, beim nach Hause gehen, selbst beim Essen (jetzt iss mal, wenn Du noch Hunger hast und albere nicht nur herum), beim Waschen und so weiter. Tatsächlich wird es dann selbst mir zu viel.
Zeit geben, die Dinge auf Kinderart zu tun
Gerade mein vorletzter Post erzählt davon, wie wichtig es ist, den Kindern Zeit zu lassen. Nicht nur die Zeit, die Dinge selbst zu tun, sondern auch Zeit für das Erleben und Erspüren. Gedanken denken, Gefühle fühlen. Zeit, die Dinge auf Kinderart zu tun, und das ist eben mit dem Waschlappen Tropfexperimente zu machen oder mit verschmiertem Mund den Kopf schütteln um zu schauen, wie viele Haare im Gesicht kleben bleiben.
Verrückterweise tut es mir selbst gut, den Kindern mehr Zeit zu geben. Ein paar Gänge runter schalten, cool down. Entweder wir kommen halt mal zu spät oder wir müssen eben wieder Haare waschen. Wäre ja auch eine Kausalkette, die das Kind dann eventuell selbst begreift. Wenn ich nur mehr Tiefenentspannund hätte.
Und jetzt kommt bitte nicht mit dem Teufelskreisargument und dass ich mehr Tiefenentspannung durch mehr Zeit-meinen-Kindern-geben erhalten würde. Weil, ja, ist ja so.
Und Ihr so?
Seid Ihr gut darin, den Kindern Zeit für ihre Kinderart zu geben oder seid Ihr auch so eine gehetzte Mama wie ich? Wie löst Ihr diesen Konflikt, ruft Ihr Euch immer mal wieder zur Raison, so wie ich? Oder habt Ihr gar kluge, erprobte Ratschläge? Dann her damit.
JA, Jesper Juul ist klasse! Ich schätze ihn sehr. Aber Du hast Recht: Es kommt einem schlicht manchmal der Alltag dazwischen. Ich würde meinen Kindern auch gerne mehr Zeit geben. Und wenn ich es mache, dann umschiffe ich tatsächlich viele Konflikte. Nur leider beginnt die Tagesmutter um 8.30 mit dem Frühstück und der Kindergarten schließt um 9 Uhr die Tür. Und der Zug fährt auch ab, wenn es der Fahrplan vorsieht (nunja, manchmal jedenfalls).
Immer, wenn wir wieder mal so einen hektischen Morgen mit viel Drängelei und Quengelei haben, dann tut es mir danach alles leid und ich mag mich gar nicht so in der Mecker-Mama-Rolle. Und man kommt sich wirklich doof vor so als „Schuhe anzieh“-Roboter.
Aber weißt Du was, ich heute ausprobiert habe? Es war der erste Tag nach dem Urlaub. Ich hatte mich eigentlich auf einen stressigen, quengeligen Morgen eingestellt. Aber da meine Jungs gestern erst um zehn schlafen wollten (sie sind eineinhalb und vier!), habe ich sie heute morgen nach dem Weckerklingeln schlafen lassen. Bis ich die Frühstücksbrote geschmiert hatte und die Kiga-Frühstücksbox fertig hatte. Dann habe ich sie geweckt. Und Wunder Wunder. Es ging alles ohne Gemecker. Ich versuche es morgen wieder.
Ja, der Jesper. Den mag ich auch. Und recht hat er ganz bestimmt. Wir haben es übrigens geschafft, aus dem morgendlichen Antreibkarussell halbwegs auszusteigen, indem wir noch eher aufstehen. Die grosse Maus (7 J.) hat jetzt insgesamt 60 Minuten Zeit zum Aufstehen, Waschen, Anziehen, Frühstücken, Zähne putzen. Das ist reichlich, lässt aber genügend Luft, um nicht ungeduldig zu werden. Sie ist nämlich eine von der ganz langsamen Sorte. Der kleine Spatz wird kurz nach ihr geweckt, aber benötigt mit seinen 3 Jahren noch Hilfestellung, die ich ihm leiste, währenddessen Papa das Frühstück vorbereitet. (Der kleine Mann möchte Windeln, auf die Toilette gehen möchte er noch nicht). Da wir viel Zeit haben, schaffen wir es. Im Klartext stellen wir Eltern den Wecker auf 5:50 Uhr, die Kinder werden 6:30 Uhr geweckt und aus dem Haus gehen wir 7:30 Uhr bzw. geht der Papa schon eher los. Aber es klappt. Praktisch keinen Stress mehr morgens. Das tut so gut. Wir haben es geschafft, indem wir jeweils den Wecker in 10-Minuten-Schritten weiter vorgestellt haben, bis wir zum erwünschten Ergebnis gekommen sind.
Das finde ich ehrlich großartig. Leider funktionieren wir morgens nicht so gut. Aber ja, klüger und fairer für die Kinder wäre es, wenn wir früher aufstünden und selber eher mit unserem Kram fertig wären. Weiß ich alles, so isses ja nicht ;)
Oh ja, der Jesper sagt viele Dinge, die ich gerne unterschreibe. Dennoch ist es das absolute Ideal. Wir müssen halt schauen, dass es in unserem Alltag passt. Wir lassen ja auch nicht unsere teuren Flug Tickets verstreichen, nur weil das Kind noch mal um den Block wollte mit dem Laufrad.
Auch Jesper würde das nicht machen. Aber seine Sprüche und Ratschläge helfen in vielen Situationen wieder mehr an das Kind zu denken und aus seiner Sicht zu handeln.
Ich finde die Idee übrigens super, auch über deine Jesper fails zu lesen! We are all as perfect as possible.
Meine Jesper Fails, großartiges Wort. Wieder englisch aber great. :)
Ich glaube ja, Herr Juul würde Dir jetzt voll zustimmen, dass es überhaupt nicht schlimm ist, sondern auch gut, wenn Kinder Termine und Beeilen kennenlernen. Er fände es sicher auch nicht schlimm, dass dadurch Konflikte entstehen.
„Falsch“ ist doch nur die Erwartung, dass ein Kind in dieser Situation funktionieren soll und alles hübsch harmonisch ist.
Dass Du eine schlächte Muttaaa bist, wenn es nicht rund läuft, ist Deine Interpretation. Das würde Herr Juul ohnehin nie sagen .
Wenn man das Zitat aber im Hinterkopf hat, dann kann man wenigsten emphatisch bleiben, wenn das Kind unter Zeitdruck nicht funktioniert und selbst die Verantwortung übernehmen. Wie viele Leute sehe ich, die ihre Kinder dann verbal beschuldigen. „Du bist nicht lieb!“ „Wegen Dir sind wir immer spät dran!“ usw.
Ich finde die Idee übrigens super und werde mir sicher nicht verkneifen können, fleißig dazu zu kommentieren .
Liebe Grüße
Julia
Großartig! Lieben Dank für die Ermutigung und vorallem für den tollen Kommentar, den ich noch viel besser finde, als mein Fazit. Der Herr Juul würde mit Sicherheit die Häufung und den Druck meiner Eilantreibung kritisieren, aber mit Sicherheit würde er nicht schlächte Muttaaa rufen. Das mache ich ja selbst. Aber der Punkt ist das empathisch bleiben und das Kind nicht beschuldigen. Das ist eh für mich die Quintessenz aus Jesper Juul: Selbst in der Verantwortung bleiben, Fehler eingestehen und das Kind aus den (oftmals erlernten) Anschuldigungen rausnehmen.
Danke dafür. Das bringe ich demnächst nochmal rein.
Elternclanliebe und so <3
Hallo,
ich sehe solche Situationen immer durch meine Soziologenbrille und ich frage mich: Wer failt denn wirklich? Kennste ja schon :-) Und da gibt es eben Arbeitgeber, die das pünktliche Erscheinen ihrer MitarbeiterInnen erwarten (oft auch zu Recht, weil der funktionale Ablauf es erfordert), da gibt es Kitas, die Bringzeiten vorgeben (oft mit einer bestimmten pädagogischen Intention), Ärzte erwarten ebenso, dass man dort pünktlich erscheint, auch Kinderärzte, und so weiter und so fort. Sprich: Häufig ist der Entscheidungsspielraum der Eltern gar nicht so groß, dass den Kindern immer die Zeit gelassen werden könnte, die sie grade brauchen. Selbst sicherlich sinnvolle Maßnahmen, wie das frühere Aufstehen, können nur umgesetzt werden, wenn die Rahmenbedingungen das ermöglichen. Wenn mein Kind vor 7 Uhr aufstehen müsste, dann müsste es abends so früh ins Bett, dass ich den Tagesablauf nach Abholung aus der Kita gar nicht mehr auf die Kette bekäme. Und ich kenne etliche Eltern, bei denen ins Betten bringen der Kinder und Aufstehen in einem sehr mühsamen Prozess genau so eingependelt wurde, wie es eben am ehesten im Alltag funktioniert und ihr Spielraum ist nie besonders groß. Sicherlich liegt dieses Terminverhalten vielen Kindern nicht. Ich glaube es liegt auch vielen Erwachsenen nicht besonders. Die Chronobiologie und unsere Gesellschaft haben oft ziemlich unterschiedliche Bedürfnisse. Und meistens müssen wir Eltern diese Widersprüche dann ausbaden. Wir sind hier die HeldInnen und nicht die Loser! Wir ziehen den Karren jeden Tag immer und immer wieder aus dem Dreck!
Ich denke die Kunst ist eben sich als Eltern immer wieder bewusst zu werden, ob jetzt wirklich Zeitdruck da ist, oder ob wir nur aus reiner Gewohnheit an unserer Planung festhalten und wir die Kinder jetzt grade eigentlich genauso gut machen lassen könnten.
Vielleicht steht Juuls Zitat aber auch in einem anderen Kontext. Ich kenne sehr viele Eltern, die sich fortlaufend Sorgen machen, weil ihr Kind dieses oder jenes erwünschte Verhalten nicht zeigt oder dieses oder jenes nicht (mehr) erwünschte Verhalten zeigt. Da wird gebangt, ob Sprachentwicklungsstörungen vorliegen, weil das ältere Geschwister mit 3 ja schon viel besser sprechen konnte. Oder das Kind der Nachbarn sich im gleichen Alter schon alleine anziehen kann. Oder alle Kinder in der Kita-Gruppe schon trocken sind. Und das eigene Kind nicht. Oh weh! Oder weil das Kind wochenlang keine Lust auf Mathe hat, obwohl die Beziehung zur Schule und Mahte geprüfter Weise okay ist. Das geht doch nicht, da wird so viel Stoff durch genommen in der Zeit!
Dahinter steht oft die Vorstellung von einem sehr engen „Normbereich“, in den die Kinder passen müssen, wenn sie nicht den Anschluss verlieren sollen. Es ist insgesamt eine Haltung, die von Ängsten und Unsicherheiten geprägt sind und auch diese bestehen ja nicht grundlos, sondern haben ihr handfestes Fundament in unserer Gesellschaft. Wir sollten also alle den Kindern mehr Zeit lassen: Familie, Freundeskreis, Politik, Bildungsinstitutionen, Unternehmen. Das würde uns sicher allen gut tun :-)
Ich bin schon sehr gespannt auf Deine neue Reihe, ich finde die Idee wirklich ganz zauberhaft.
In diesem Sinne viele Grüße
Esther
Ja, finde ich auch alles. Sehr gute Ergänzung. Aber genau das: dieses Steckenbleiben im Gehetzt-sein, das muß ja nicht sein. :)
Was, wenn ich gestehe, den Jesper bisher gar nicht zu kennen? Das ist peinlich, oder?
Aber er scheint nen kluges Kerlchen zu sein. Und idealistisch. :D
Ich bin die Mama, die ihren Kindern Zeit lässt, verdammt viel Zeit. Nachbarn bewundern, wie wir eine halbe Stunde für 10 Meter brauchen und ich lass selbst meines Minis meist sehr viel selbst machen. Einfach aus einer Mischung aus „fühlt sich richtig an“ und dem „sonst haste Stress“ und nicht zuletzt: Ich bin verdammt froh, wenn ich die beiden möglichst wenig tragen und hochheben muss. Mir fehlt die Energie für Sprint.
Aber auch ich habe ständig Stress und Wutanfälle. Die entstehen trotzdem. Egal wie ruhig man selber daran geht. Gehört einfach wohl dazu.
Kein Wunder, dass Du den nicht kennst. Du hast den einfach nicht nötig. Du Supermutti! <3