Finding Europe – Elternschaft anderswo ist eine neue Reihe mit Gastbeiträgen von anderen Blogger*innen sowie analogen Menschen ohne Blog, die von ihren Erfahrungen aus Europa berichten. Im Fokus der Erzählungen ist immer Elternschaft, Familie, Kindererziehung, Geburt und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Alles auf einmal oder nur einzelne Themen, aus anderen Ländern oder aus Deutschland.
Inspiriert dazu hat mich die republica 2015, meine Vorfreude und meine Faulheit: Da ich weiß, dass ich während der republica nichts bloggen werde aber auch unfähig zu faul bin, Blogposts für die Tüte zu schreiben, um sie in schlechten Zeiten zu veröffentlichen, kam ich auf der glorreiche Idee, das andere Leute für mich machen zu lassen. Da meine Abwesenheit vom Blog der republica geschuldet ist, und das diesjährige Motto „Finding Europe“ lautet, war der Transfer in den Elternkosmos für mich ziemlich naheliegend.
Ähnlich wie die republica aber weniger umfassend, möchten alle Schreiber und ich einzelne Teile des Kulturraum Eurospa mit seinen Besonderheiten im Familienlebens beleuchten. Ich hoffe, es wird für Euch so unterhalten wie für mich. Ich lade Euch ein, lesend durch die Texte zu schlendern, sich zu amüsieren, vielleicht zu lernen oder neue Verknüpfungen herzustellen. Ob eine „Allianz von Ideen“ oder Diversität von Werten im Vordergrund steht , eins ist klar: Familie und Elternschaft sind immer individuell. Das zeigt schon der deutsche Familienbloggerkosmos. Elternschaft ist aber auch immer gebunden an politische Systeme und Entscheidungen, nationale Gemeinschaften und historische Kontexte. Ich bin gespannt, wie Euch die Idee und die Texte gefallen. Ich jedenfalls freue mich auf alle meine Gastblogger*innen sehr.
Zur Autorin heute
Den Anfang macht die Bloggerin Lotte aus Düsseldorf, die nicht wirklich Lotte heißt und nicht ursprünglich aus Düsseldorf kommt. Sie weiht uns ein in ihre europäischen multikulti-Familie. Ihr Auftakt mit ihrem Blick der Kindeskindergeneration der ehemaligen Gastarbeiter könnte kein schönerer sein für meine Reihe.
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Die mediterrane Achse: Meine Immigranten-Familie zwischen Tradition und Gegenwart
Schon mein Name ist eine kleine EU für sich: Sowohl das türkenaffine „ü“, als auch das italienische „gn“, das als „j“ ausgesprochen wird, tauchen auf und überfordern im ersten Moment jeden, der mich in eine nationale Schublade stecken will. Keine Chance!
Ich löse auf: ich komme aus der Türkei, bin dort geboren, kam mit sieben Jahren ins Sauerland und habe die Deutschen als distanzierte, verschlossene und nicht allzu gastfreundliche Menschen kennen gelernt. Mein Mann ist das Kind einer spanischen Mutter und eines italienischen Vaters, wurde aber in Deutschland geboren und wuchs hier auf. In den Wirren des Studiums kamen wir zusammen und nach Jahren der wilden Ehe heirateten wir und bauten mit der Geburt des Kindes ein Stargate für den Eintritt unserer Eltern in unsere kleine Familie.
Tja, Südländer und Familie
Da gibt es Bücher, Komödien und sonst welche Darstellungen, alles geschaffen von Familienopfern, die versuchen, das Trauma durch den kreativen Prozess zu verarbeiten. Und lasst euch gesagt sein: nichts davon ist übertrieben!
Das Kuriose und Erzählenswerte entsteht, wenn die eine Kultur auf die andere schaut und versucht mit den eigenen Wertmaßstäben die andere einzuordnen. Ich versuche nun seit Jahrzehnten diesen Spagat mit drei Beinen und nur der Humor hilft, nicht zu verzweifeln. Hier ein Beispiel:
Als ich schwanger wurde, rief ich meine Mutter an, um diese freudige Nachricht mit ihr zu teilen: „Mutter, ich bin schwanger!“
„Aber du bist doch nicht verheiratet“, rief meine Mutter aus. „Wie konnte das sein?“, dachte sie sich. Die Gebärmutterschleimhaut baut sich doch erst nach der Unterschrift auf dem Standesamt auf?
Tja, Pustekuchen. Ich heiratete im achten Monat schwanger, auf den Fotos vom Standesamt ist die dicke Kugel dominant. Meine Mutter war stolz, dass das ältere Kind der Familie endlich heiratete und wollte diese Freude und den Stolz mit Freunden und Familie in der Türkei teilen. Sie machte sich auf, Fotos zu verschicken, nur, wie sollte sie die vorzeitig entstandene Kugel erklären? Ihr ahnt es: es gibt nur Porträtfotos von meiner Eheschließung auf dem Standesamt, meine Mutter hat einfach den Bauch weggeschnitten.
Aber der Spaß geht noch weiter. Mein Mann und ich waren uns einig, dass unser Kind einen Namen bekommen sollte, der weltweit leicht aussprechbar sein sollte, also keine Umlaute und dergleichen. Am Ende entschieden wir uns für einen griechischen Namen. Weltuntergang für meine Mutter. Sie beschloss, dieses Kind nicht zu lieben usw.. Und dann war sie die erste, die mir das frischgeschlüpfte Kind im Krankenhaus aus den Armen riss und an sich drückte.
Ach nee, das waren doch die Schwiegereltern. Denn diese sind immer wieder „zufällig“ in Düsseldorf und schauen dann mal für ein paar Stunden oder Tage vorbei.
Familie bei allen Südländern bedeutet, dass man möglichst viel Zeit miteinander verbringt und alles Mögliche miteinander teilt. Dass sich die Zeiten geändert haben und man nach zehn Stunden im Büro keine Lust auf eine riesige Runde beim Abendessen hat, in der man die aktuellen Gemüsepreise beim Penny bespricht, hat noch keinen Einfluss auf die Mentalität gehabt. Auch dass man die Familie um 3 Uhr nachts nicht zum Billigflughafen nach Weeze bringen kann, weil man um 8 Uhr morgens ein Meeting mit dem Chef hat, wird eher missbilligend zur Kenntnis genommen.
Gastarbeiter und ihre Kinder und Kindeskinder
Noch immer lebt in den Köpfen unserer Eltern das Bild von der Familie, die sie damals in der Heimat zurückließen und der Gemeinschaft die sie hier in den 70′ er Jahren aufbauten. Diese starke Gemeinschaft trug sie durch die harten Zeiten in einem fremden Land und prägte das soziale Gefühl der Immigranten der 70’er und 80’er Jahre.
Die Zeiten haben sich geändert, die Kinder und Kindeskinder der frühen Gastarbeiter haben sich -größtenteils-integriert und haben sich den Lebens- und Arbeitsbedingungen hier angepasst. Diese halten leider weniger Zeit für Freunde und Familie vor, als man denkt. Hmm, die Eltern ahnen das auch irgendwie, vielleicht weil wir es ihnen gebetsmühlenartig vortragen, wie überlastet wir sind. Vielleicht merken sie es auch, weil wir nicht zuhause sind, wenn sie uns besuchen.
Familie und Werte: Respekt
Nun, wie sehr wir uns auch integriert und emanzipiert haben, manche Werte haben uns unsere Eltern eindrücklich weiter vermitteln könne. Bei mir ganz tief verwurzelt ist der Respekt vor der Familie und den Alten. Um dieser Wertvorstellung zu huldigen, verbrachte ich eine surreale Woche mit der Familie meines Mannes in Madrid und verbringe die nächste Woche mit meiner Familie in Istanbul (betet für mich). Es bleibt spannend..
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Finding Europe: Elternschaft anderswo. Susanne aus Andalusien
Tolles Interview! Ich bin schon gespannt auf noch mehr Einblicke in „Elternschaft anderswo“.
Ein toller Einblick – seit ich selbst im Ausland lebe, finde ich es ungeheuer interessant zu erfahren, wie Menschen aus anderen Ländern und Kulturen das Leben in Deutschland empfinden. Ich freue mich sehr auf die Beiträge in dieser spannenden Reihe!
Toller Artikel mit sehr spannenden Einblicken in eine Multikulti-Familie. Da ist die Latte aber hoch gesetzt für die weiteren Texte der Reihe (bibber). Ich gehe in mich!
Wunderbar!