Alex lebt mit seiner Frau Ingunn aus Norwegen in Norwegen und erzählt von Elternschaft, Kindererziehung, Geburt, Hebammen und Vereinbarkeit. Das ganze Programm also und das sehr informativ erzählt. Ich kenne Alex gar nicht persönlich, er ist der Bruder einer lieben Freundin von mir und war wahnsinnig nett genug, sich in mein Blog zerren zu lassen. Vielen Dank dafür!
Finding Europe – Elternschaft anderswo ist eine neue Reihe mit Gastbeiträgen von anderen Blogger*innen sowie analogen Menschen ohne Blog, die von ihren Erfahrungen aus Europa berichten. Im Fokus der Erzählungen ist immer Elternschaft, Familie, Kindererziehung, Geburt und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Alles auf einmal oder nur einzelne Themen, aus anderen Ländern oder aus Deutschland.
Inspiriert dazu hat mich die republica 2015, meine Vorfreude und meine Faulheit: Da ich weiß, dass ich während der republica nichts bloggen werde aber auch unfähig zu faul bin, Blogposts für die Tüte zu schreiben, um sie in schlechten Zeiten zu veröffentlichen, kam ich auf der glorreiche Idee, das andere Leute für mich machen zu lassen. Da meine Abwesenheit vom Blog der republica geschuldet ist, und das diesjährige Motto “Finding Europe” lautet, war der Transfer in den Elternkosmos für mich ziemlich naheliegend.
Ähnlich wie die republica aber weniger umfassend, möchten alle Schreiber und ich einzelne Teile des Kulturraum Eurospa mit seinen Besonderheiten im Familienlebens beleuchten. Ich hoffe, es wird für Euch so unterhalten wie für mich. Ich lade Euch ein, lesend durch die Texte zu schlendern, sich zu amüsieren, vielleicht zu lernen oder neue Verknüpfungen herzustellen. Ob eine “Allianz von Ideen” oder Diversität von Werten im Vordergrund steht , eins ist klar: Familie und Elternschaft sind immer individuell. Das zeigt schon der deutsche Familienbloggerkosmos. Elternschaft ist aber auch immer gebunden an politische Systeme und Entscheidungen, nationale Gemeinschaften und historische Kontexte. Ich bin gespannt, wie Euch die Idee und die Texte gefallen. Ich jedenfalls freue mich auf alle meine Gastblogger*innen sehr.
Etwas über uns:
Ich komme aus Deutschland, meine Frau Ingunn aus Norwegen. Kennengelernt haben wir uns 2004 in Berlin, wir sind ein Erasmus Pärchen. Aus dem von Ingunn ursprünglich geplanten einem Semester in Berlin wurde ein längerer Aufenthalt. Nach einem Jahr Studienaufenthalt in NY (2005-2006), wovon Ingunn die Hälfte der Zeit dabei war, folgten 2 Jahre Distanzbeziehung Berlin – Oslo. Wir kauften 2008 gemeinsam eine Wohnung in Berlin-Mitte und Ingunn zog zurück nach Berlin. Im März 2009 wurde unsere Tochter Johanna in Berlin-Pankow geboren (Anmerkung dazu: Ein Hoch auf die EU. Obwohl Ingunn in Deutschland nicht versichert war wurde die Geburt mit allem Drum und Dran über die EU/EWG Krankenversicherung abgewickelt). Im September 2009 zogen wir nach Oslo. Ingunn konnte Anfang 2010 in ihren alten Job zurückkehren. Im August 2010 begann Johanna mit 18 Monaten ihre Karriere im Kindergarten und ich meine Berufslaufbahn.
Geburt: Same same but different
Unsere Tochter wurde in Berlin geboren, unser zweites Kind erwarten wir Anfang Juni. Die Geburt wird in Oslo sein. Die größten Unterschiede, die ich ausmachen kann, befinden sich im Bereich der Vor- und nachgeburtlichen Betreuung durch Ärzte und Hebammen. Diese ist in Deutschland wesentlich umfassender.
Vorweg sollte ich erwähnen, dass Krankenversicherung in Norwegen anders funktioniert als in Deutschland. Alle Staatsbürger und Ausländer mit langfristiger Aufenthaltserlaubnis sind automatisch krankenversichert. Es gibt keine Versicherungsunternehmen und dementsprechend zahlt man auch keine monatlichen Beiträge. Das System wird finanziert durch höhere Mehrwertsteuern, zusätzliche Abgaben auf vieles was ungesund ist (darum ist das Bier so teuer) und direkte Beiträge beim Arztbesuch (ca. 20 Euro) bis zu einem jährlichen Maximalbetrag, ab da ist es dann gratis. Generell ist die Versorgung weniger großzügig als in Deutschland. Wer akute Probleme hat kann sich aber auf umgehende und umfassende Versorgung verlassen. Wer weniger akute Probleme hat muss oft lange warten. Wer das nicht möchte kann alles selbst zahlen und kriegt einen Platz ganz vorne in der Warteschlange. Als Ergebnis passen alle etwas mehr auf sich auf.
In Norwegen werden Schwangere in erster Linie von ihrem zugeteilten Hausarzt, einem Allgemeinmediziner, betreut. Sollten die Schwangeren keine besonderen Anzeichen im Schwangerschaftsverlauf zeigen, ist eine Untersuchung beim Gynäkologen nicht vorgesehen. Während der gesamten Schwangerschaft wird ein Ultraschall durchgeführt, die Feinglieduntersuchung. Sollte man zusätzliche Ultraschalluntersuchungen wünschen kann man diese bekommen, muss diese allerdings vollständig selbst zahlen (ca. 200 Euro). Ab ca. Woche 26 können die Schwangeren wählen ob sie zusätzlich zum Hausarzt noch Untersuchungen bei einer Hebamme wünschen.
Das Krankenhaus, in dem die Geburt stattfinden soll, wird zugeteilt, da in Oslo großer Andrang herrscht. Die Geburt habe ich in Oslo noch nicht erlebt. Vom Besuch im Krankenhaus her zu urteilen sehen Räumlichkeiten und Umsorgung dem was wir aus Berlin kennen sehr ähnlich. Einige Häuser im Land haben eine recht strenge Politik was Schmerzmittel angeht. Hier bin ich mir nicht sicher ob das auch in Deutschland von Haus zu Haus unterschiedlich ist. Das Wochenbett ist kürzer, beim ersten Kind 72 Stunden (Tag der Geburt zählt nicht mit), beim zweiten 48 Stunden. Für Väter ist leider kein Platz. Nach der Geburt gibt es keine Betreuung durch Hebammen die zu einem nach Hause kommen. Das haben wir in Berlin als großen Vorteil empfunden. Routineuntersuchungen beim Kind werden aber wie in Deutschland durchgeführt.
Kindererziehung
Da ich kein Kind in Deutschland erzogen habe, Johanna war 6 Monate alt als wir umgezogen sind, kann ich leider keinen direkten Vergleich anstellen. Einige Unterschiede fallen mir jedoch auf:
Kinderunterhaltung – Medien
Kinderunterhaltung (Bücher, Fernsehen etc.) ist auf sehr hohem Niveau und scheint die Kinder ernster zu nehmen. Während in Deutschland Kinderunterhaltung oft stark von politisch korrekter Pädagogik geprägt ist, scheinen sich Inhalte hier mehr an Interessen und Wünschen von Kindern auszurichten. Pipi Langstrumpf, eine elternlose Chaotin die alle Regeln bricht, dabei enorm Spaß hat und immer damit durchkommt, wurde in den späten 1940ern geschrieben (in Schweden, aber da gibt es sehr starke Parallelen zu Norwegen). Das Erbe der Grimms gibt es hier nicht, wo jedes typisch kindliche Verhalten mindestens mit einer Nahtoderfahrung bestraft wird. Oder die norwegische Sendung Waffelherzen, die auch auf Kika läuft. Hier werden Themen die für Kindern zentral sind, Freundschaft, Zugehörigkeit, Loyalität, unverkrampft ins Zentrum gerückt.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Erziehung und Organisation des Haushalts sind bereits seit einiger Zeit gemeinsame Aufgabe von Mutter und Vater. Ich habe in Deutschland junge Väter gehört die meinten, im ersten Jahr eines Kindes sei für Väter nicht viel zu machen. Das wäre in weiten Teilen der Bevölkerung hier sozial eher unverträglich.
Kindergarten ist die Norm, auch für die Kleinsten. Die meisten Kinder fangen mit 12 Monaten in der Kita an, manche auch schon vorher. Kitas sind von etwa 7.30 bis 17.00 geöffnet. Dieses Angebot wird von einer großen Mehrheit der Eltern angenommen. Der Diskurs „Rabenmutter“ findet kaum statt. Bis auf eine verschwindend kleine Minderheit zweifelt auch niemand daran, dass es den Kindern, auch den Kleinsten, in den Kitas gut geht und dass der Aufenthalt dort die soziale Kompetenz fördert. Diese breite Nutzung von Kindergärten muss in Verbindung damit gesehen werden, dass Frauen traditionell gleichgestellter sind, und ihr Anrecht auf Vollzeitarbeit nach der Mutterzeit nicht angetastet wird (diese ist so lang wie in Deutschland, aber mit 100 % Lohn). Dazu gehört natürlich auch dass die allermeisten Mütter dieses Anrecht wollen und verteidigen.
Auch die Arbeitswelt ist darauf eingestellt dass man gegen 16.00 los muss um die Kinder abzuholen. Flexizeit, Gleitzeit etc. helfen, wären allerdings nicht so nützliche Instrumente ohne den breiten Konsens in Chefetagen, dass Kinderbetreuung zum Leben von weiblichen und männlichen Angestellten dazugehört. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, die Finanzbranche etwa, aber dies sind Ausnahmen und nicht die Regel.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in Norwegen so gut ermöglicht wie in kaum einem anderen Land. Das ist politisch gewollt. Natürlich gibt es auch hier Defizite, wie unterfinanzierte Kitas. Es würde aber niemand auf die Idee kommen, eine Kita um 15.30 zu schließen, wer könnte da Vollzeit arbeiten?
Fun Facts
Es ist Tradition, dass Kinder nur am Samstag Süßigkeiten kriegen. Da wir eine gemischte Familie sind halten wir uns nicht daran. Kinderfernsehen gehört täglich zwischen 17.30 und 18.30 dazu. Ich habe noch nie gehört dass jemand Fernsehverbot ausgesprochen hat. Die eine Stunde brauchen alle Eltern um Essen zu machen, zumindest die schlimmste Unordnung zu beseitigen oder um noch ein paar Job-Emails zu beantworten.
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„Kinderfernsehen gehört täglich zwischen 17.30 und 18.30 dazu. Ich habe noch nie gehört dass jemand Fernsehverbot ausgesprochen hat. Die eine Stunde brauchen alle Eltern um Essen zu machen, zumindest die schlimmste Unordnung zu beseitigen oder um noch ein paar Job-Emails zu beantworten.“
Wie verrückt! Man stelle sich das mal vor in einer deutschen Elternrunde.. vielleicht nach dem Elternabend in der KiTa. „Ach also WIR lassen Marlin Luise immer noch ne Stunde fernsehen um Mails zu checken oder zu kochen!“
Man würde verurteilt werden. Mindestens.
Hey cool. Es ist also in Norwegen ähnlich locker wie in Frankreich! Ich weiss gar nicht, wie Ihr das alle in Deutschland schafft…
Ja, es klingt angenehm entspannt. Wo lebst Du denn? Möchtest Du auch über Dein Land berichten? :)
Deine Serie ist klasse. Interessant mal über den Tellerrand zu schauen und aus erster Hand zu erfahren, wie Eltern in anderen Ländern leben, arbeiten und erziehen.
Danke dafür!
Großartig! Auch hier in Istanbul würde keiner darauf kommen, eine Kita vor 18 Uhr zu schließen. Ich verstehe immer noch nicht, warum es in Deutschland so sehr am „Betreuungszeiten-Punkt“ hakt. Organisation ist ja eigentlich nicht unsere Schwäche….
Ich bin schon gespannt, welche Länder du noch für uns bereit hältst.
Liebe Grüße vom Bosporus <3