Wenig ist kräftezehrender, zermürbender und insgesamt spaßverderbender als ein nicht schlafen wollendes Baby. Nora Imlau und Herbert Renz-Polster haben darüber ein Buch geschrieben und mit viel Verständnis für die kindlichen Bedürfnisse und die verständliche Not junger Eltern: „Schlaf gut, Baby!: Der sanfte Weg zu ruhigen Nächten„[Affiliate Link, also Werbung]. Das Buch hat keine Patentrezepte oder Methoden, und dennoch kann es als ruhiger und verständlicher Leitfaden zu einem neuen Blick auf das Leben mit Kindern verhelfen.
Zu den Autoren
Nora Imlau ist Journalistin, hier habe ich sie zu ihrer Vereinbarkeit von Familie und Beruf interviewt, Mutter von zwei Kindern. Sie schreibt seit knapp 10 Jahren, unter anderem für die „Eltern“ über Familien und die Bedürfnisse von Groß und Klein. Attachment Parenting ist ihr ein Anliegen, egal wie man es nennt.
Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Vater von vier bereits erwachsenen Kindern. Er hat lange Zeit als Wissenschaftler im Bereich Förderung von Kindern und Entwicklung der Kinder aus Sicht der evolutionären Verhaltensforschung gearbeitet. Dazu hat er mehrere Bücher geschrieben. Er betreibt außerdem die Seite „Kinder verstehen“.
Meine eigene schlaflose Zeit und was ich heute darüber denke
Wenn ich an die schwerste Zeit mit zwei Kinder, oder auch mit nur einem Kind, und denke und mir vorstelle, ich hätte das Buch damals schon gelesen, ich bin mir sicher, es hätte mir geholfen. Allerdings nicht von jetzt auf gleich. Dieses Buch bietet keine Regieanweisung, es bietet ein Neudenken an.
In Bezug auf wie wir mit unseren Kindern leben wollen, stehen wir an einem Paradigmenwechsel. Einem Wechsel vom Behaviorismus, der auf Belohnung, Bestrafung, Manipulation und eben drastische Änderungen und Erziehung aus ist hin zu einem Leben in gleichwürdigen Beziehungen, ein Leben mit Nähe und all dem, was damit zu tun hat; unter anderen auch Interessenkonflikte.
Wenn ich mich zurückbeame in die Zeit der schlaflosen Nächte mit Baby und schlimmer noch mit Baby und winzigem Kleinkind, in die Tage ohne Kraft, ja oft ohne wirkliche Freude; der Schlafmangel so knochentief und wochenlang, dass es einfach nur weh tat und stumpf machte – es hätte mich das Lesen dieses Buchs viel Kraft gekostet. Darum möchte ich den Rat an alle verzweifelten Eltern lesen: legt Euch mit dem Kind hin, beruhigt es in den Schlaf und lest an der Nachttischlampe (oder auf dem Sofa, oder wo auch immer das Kind schläft) dieses Buch.
Jetzt habe ich erstens zwei größere Kinder und bekanntlich weiß man rückblickend alles so viel besser und zweitens schon ein Buch von Herbert Renz Polster gelesen: „Kinder verstehen“ [Affiliate Link]. Das war zwar etwas zu spät, da waren meine Kinder schon 2 und 4 Jahre alt, aber immerhin noch früh genug, um mich mal runterkommen zu lassen und mich zu bestärken in dem, was ich bisher getan und nicht getan hatte und vorallem gegen meine inneren Stimmen oder die von Freunden und Familie. Dieses Buch von Renz-Polster sowie „Nein aus Liebe“ und „Das kompetente Kind“ von Jesper Juul haben mir geholfen, klar zu werden damit, was Kinder „jetzt schon wieder, um Gottes Willen“ von mir wollen: Beziehung und Nähe, Rückversicherung und Liebe.
Aufbau des Buchs und Kernaussagen (aus meiner Sicht)
„Beziehung und Nähe, Rückversicherung und Liebe.“ – Was so nett und schmusig klingt, ist harte Arbeit, keine Frage! Vorallem dann, wenn der Schlafmangel ein großes böses Monster ist. Darum habe ich mich sehr gefreut über das Kapitel: „Eine Begegnung mit Ängsten, Mythen und uns selbst“. Für mich ist es die zentrale Stelle in diesem Buch, vielleicht weil es mir ein so persönliches Anliegen ist, vielleicht aber auch, weil sich ein Buch, das vom Babyschlaf erzählt und einen Paradigmenwechsel erkennt und sogar fördern möchte – genau mit diesen Mythen und zu öffentlich geführten Diskursen umgehen muss, bevor sich irgendetwas ändern kann.
Ich hätte mir dieses Kapitel daher eigentlich etwas länger und ausführlicher gewünscht, damit es auch wirklich jede*n abholen kann. Es geht in dem Kapitel darum, warum diese erste Zeit ohne regelmäßigen Kinderschlaf so schwierig sein kann und welche Geschichten, Diskurse, Annahmen und inneren Stimmen uns Eltern das Leben so schwer machen. Wir wissen doch eigentlich, dass das Kind uns nicht ärgern oder gar manipulieren will. Wir wissen doch, dass das Kind lediglich seine Bedürfnisse äußert und es ein „Verwöhnen“ an menschlicher Nähe für kleine Kinder (und große Erwachsene) gar nicht gibt, schon gar nicht im Sinne von „verziehen“. Und dennoch führen wir Streitgespräche mit uns selbst, werden unsicher, unleidlich und wollen irgendwann „Schluss, Aus Basta!“ zu einer schnellen Lösung kommen.
Mythen wie „falsche Gewohnheiten, Schlafassoziaton, Schlaftrainings, selbständig werden, selber trösten“ und weitere dieser vergrabenen Bomben werden vom Autorenteam ausgebuddelt, aus ihrer Sicht erklärt, aufgedröselt und unscharf gemacht. Das alles ist sehr gut und respektvoll geschrieben.
Ich fühlte mich in Ton und Sprache sehr gut aufgehoben und angenommen und fühlte mich auch im Nachhinein noch in vielem be- und gestärkt. Einige für mich zentrale Aussagen dieses Kapitels möchte ich hier zitieren:
„Ob diese Sprache [die Beziehungssprache, Anmerkung von mir] eher Verbundenheit und Gemeinsamkeit betont oder aber eher Kontrolle, Eingebung und Distanz. Ob im Mittelpunkt eher das Wesend des Kindes steht, seine Persönlichkeit und sein So-Sein, oder aber sein Verhalten, das es zu korrigieren gilt. Diese Grundeinstellungen sind gleichzeitig die Leitplanken unserer Eriehungshaltung. […]
Woher diese unterschiedlichen Beziehungssprachen kommen? Sie kommen auch von der Beziehungssprache, in der wir selbst aufgewachsen sind.“
Das erste Kapitel im Buch ist jedoch „Warum Kinder anders schlafen“, das vieles aus „Kinder verstehen“ zusammen fasst. Wir haben eben Steinzeitbabys, die Nähe für ihre Sicherheit brauchen und nicht wissen oder fühlen können, dass sie in ihrem Bettchen in der Wohnung vor wilden Tieren sicher sind. Sie brauchen Nähe und Rückversicherung um zur Ruhe zu kommen.
Das Kapitel „Wilde Nächte. Was uns Mut machen kann“ erklärt, warum es zu Schlafstress kommt. Weil es einfach DAS Thema bezüglich Babys ist.
Ich wurde von wildfremden Menschen auf der Straße gefragt, ob das Baby schon durchschläft oder ob es schon abgestillt sei. Abgesehen davon, dass solche Fragen viel zu intim und eher übergriffig sind, insbesondere von fremden Menschen, so zeigen sie doch, was für ein Oberthema das Ganze ist. Wie gemacht dafür, Erwartungen zu schüren, Bewertungen vorzunehmen und Stress zu verursachen. Abgesehen von Patentrezepten gibt es doch ein paar Grundideen, um sanft in den Schlaf über zu leiten: einen Nachtmodus schaffen, Geduld, Nähe und selbst echt sein.
Eine zeitlang kam Kind2 gar nicht zur Ruhe, er wachte immer gegen 21 Uhr wieder auf und blieb lange Stunden unruhig. Irgendwann langweilte ich mich mit dem dauerfummelnden, haareziehenden und hampelnden Baby zu sehr im dunklen Schlafzimmer und nahm ihn eines Abends leicht gefrustet und wie trotzig mit ins Wohnzimmer auf die Couch. Wir dunkelten das Wohnzimmer ab, weil wir glaubten, dass sei dem Schlaf förderlich, knabberten Nüsse, guckten „Crossing Jordan“ und freuten uns heimlich. Leider wussten wir noch nicht, dass wir das durften. Mir machten es einfach, fühlten uns damit wohl. Das Baby schlief sehr bald ein und so hielten wir es einige Abende lang. Wir hatten keine Kraft mehr zu kämpfen und kamen uns wie Versager vor. Das Kind muss doch im Bett schlafen und so. (Kleiner Tipp: Muss es nicht, wenn es so klein ist. Hauptsache es schläft und die Eltern machen etwas Schönes). Irgendwann änderte sich eh wieder alles, weil eine neue Phase kam und das Einschlafen fand wieder im Schlafzimmer statt.
Im Kapitel „Acht Wahrheiten über den Kinderschlaf“ gibt Überlegungs- und Runterholansätze, die mir sehr gut gefallen haben.
- „Es geht nur ums Schlafen.“
Nicht um den Rest der Welt, nicht um den Rest des Lebens, Charakterbildung oder sonstwas - „Was ist normal?“
Und wer behauptet das eigentlich? Zitat: „Nie gab es mehr Probleme mit der Sauberkeit als zu Zeiten, als Eltern genau dieses Ziel auf dem Zettel hatten (mit dem Vermerkt „konsequent und früh!“). Nie gab es mehr Essprobleme als zu Zeiten, als die Kleinen ihren Spinat hinunterschlucken mussten.“ - „Was ist denn unsere Rolle?
Daraus Zitat: „Wo wir uns als Trainer und Lehrer verstehen, werden die Ziele übermächtig. Das belastet unsere Beziehungen. Etwa mit Scham.“
Auch ich habe mich zwischendurch schonmal geschämt, nicht für meine Kinder, sondern weil ich versagt hatte, das Durchschlafen zu lehren, das Abstillen herbeizuführen oder das Laufen“.
Das kenne ich, wider besseres Wissens, denn eigentlich war mir klar, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat, und ich kein Förderprogramm der Welt angewendet habe. Aber manchmal gibt es eben so entlarvende Situationen… - „Niemand ist schuld.“
Genau, wie unter 3. beschrieben. - „Das Hier und Jetzt nicht verleugnen.“
Daraus Zitat: „Wir glauben nicht daran, dass sich Kinder auf zukünftige Härten und Anforderungen vorbereiten, indem sie sich schon früh an Härten und Anforderungen die Zähne schärfen. Wir glauben an das Gegenteil: Das gelungene Hier und Jetzt macht Kinder stark.“ - „Was ist denn das Ziel?“
Sicherlich nicht, die Schlaffrage zu einer Machtfrage werden zu lassen, sondern eher, so viele schöne und magische Momente mit Kinder zu erleben, wie möglich. - „Braucht es wirklich so viel Material?“
Die Schlaffrage und Babyzeit ist eine riesige Konsumorgie geworden, für jeden Moment gibt es ein Dingelchen, eine Wiege, eine Trage, ein Kontrolldings, ein irgendwas. Helfen die wirklich, sind sie ihr Geld wert? Meistens ist weniger mehr. Und dennoch gibt es Produkte, die das Leben von Eltern einfacher macht und ihnen Ruhe und Sicherheit vermitteln. - „Alles auf „UNSERE Art“
Absolut zentraler Punkt. Da hilft kein Programm und kein Ratschlag, den richtigen Weg müssen wir alle selbst für uns rausfinden.
Selbstverständlich gibt es auch ein Kapitel, warum die Autoren gegen Schlaftrainings sind. Dies finde ich sehr gut und verständlich erklärt, ohne aber die Eltern abzuurteilen oder zu verteufeln, die es in ihrer Not versucht haben. Dennoch glaube ich, dass dieses Buch insgesamt Mut machen kann, auch in der schlimmsten Not nochmal das Ruder rumzureißen, und kein Schlaftraining zu beginnen.
Im Kapitel „Alles was wichtig ist“ werden die Bedürfnisse von Kind und Eltern beleuchtet und erörtert, wie sie in Balance gebracht werden können. Dazu gehören Überlegungen wie „günstige Schlafbedingungen“ und „geborgen schlafen“.
In „Einfach einschlafen“ wird erklärt, wie Schlaf funktioniert und wie wir mit unseren Lebensgewohnheiten Schlaf begünstigen können.
Dann, endlich wird etwas mehr Tacheles geredet: „Was Kinder in den Schlaf begleitet“ und zwar gegliedert nach Entwicklungsgraden und Alter.
In „So klappt die Reise durch die Nacht“ gibt es einen Notfallplan für erschöpfte Eltern. Strategisch hätte ich mir das am Anfang des Buches gewünscht. Auch wenn die ganzen Überlegungen bis hierhin absolut sinnvoll und notwendig sind. Das Buch lesen sicherlich Eltern, die sich kurz vor dem Exodus fühlen. Da braucht es schon Klarheit im Kopf, um das Buch systematisch durchzuarbeiten. Ein Notfallplan am Anfang könnte da doch helfen, oder?
„Liebevoll zum Ziel: Gewohnheiten verändern“ ist ein Kapitel und auch irgendwie die Quintessenz des Buchs. Hilfreich für viele Eltern ist sicherlich auch das Thema „Einschlafassoziation verändern“, nämlich Gewohnheiten, die zwar natürlich erklärbar sind, sich aber in einer Schlaufe gefestigt haben und Eltern den letzten Nerv rauben. Beispiele: Nächtelang auf dem Pezziball, nächtelang an den Haaren ziehen oder die Brustwarzen kniepeln lassen, Finger in Papas Nasenlöcher zum Einschlafen und vieles mehr. Hier kommt spätestens das zum Tragen, was das Buch auch vermitteln möchte: Die Bedürfnisse des Babys zu achten ist wichtig, wenn nicht gar überlebenswichtig. Aber Eltern dürfen auch auf ihre eigenen Bedürfnisse achten und Kompromisse finden. Beziehungen sind keine Einbahnstraßen. Und auch wenn Eltern für Babys und Kinder die Sorgetragenden sind, so dürfen, nein müssen sie für sich Wege finden, mit denen beide leben können. Einschlaftücher mit Löchern nähen, beispielsweise, in die das Kind seine Fingerchen stecken kann.
„Aushalten, trösten und begleiten“ ist ein weiteres Kapitel darüber, was Eltern dürfen und Kinder brauchen. Manchmal müssen Gewohnheiten verändert werden – aber eben liebevoll und sorgsam.
Ein abschließendes Kapitel über Familienbetten und andere Lösungen gemeinsam zur Ruhe zu finden, sowie neueste Erkenntnisse zum plötzlichen Kindstod rundet das Buch ab.
Fazti: Meine Meinung zum Buch
Der letzte Satz des Buchs gefällt mir sehr gut, weil er noch einmal beinhaltet, worum es geht: Beziehung, Nähe, Liebe und Konflikte gemeinsam und liebevoll lösen. Eine Riesenaufgabe, bleibt einem ein Leben lang erhalten.
„Es geht darum, dass wir uns irgendwie gemeinsam durchschlagen. Und dabei ein Team bleiben. Auch wenn wir uns mal auf die Nerven gehen. Es geht darum, WIE wir unseren Weg miteinander gehen. Das ist es, was am Ende bleibt.“
Ich empfehle dieses Buch rundweg allen Eltern, die mit der Schlafsituation unzufrieden sind – und allen Eltern, die das vielleicht noch vor sich haben. Das Buch beruhigt und bestärkt sicherlich ungemein. Irgendwie wirkt es bei mir auch noch nachträglich. Hach.
Schlaf gut, Baby!*
Herbert Renz-Polster, Nora Imlau
GU Verlag
ISBN: 9783833845987
208 Seiten, Hardcover
Leseprobe von „Schlaf gut, Baby“ vom GU Verlag.
Schlafprobleme aus Sicht der Evolution, von Herber Renz-Polster
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Im Dschungel der Bücher, ist es unfassbar schwer, etwas zu finden, was einem dann letztlich auch wirklich zuspricht! Vielen Dank für diesen tollen Einblick ins Buch gekoppelt mit den eigenen Erfahrungen :) Man hat wirklich ein gutes Bild davon :)
VG
Britta