Gestern war’s. Ein grauer und regnerischer Novembernachmittag. Meine eben noch verheulten Kinder patschen durch die Pfützen. Die Große läuft voran, der Kleine an meiner Hand hinterher. Neben uns tost der Verkehr, die Lastwagen hupen, der Wind weht kalt um unsere die Ohren. Nur damit kein Trugschluss von Herbstidylle aufkommt. Gemütlich war’s nicht.
Besonders nicht, wenn man weiß, dass vorher beide Kinder sowohl abwechselnd als auch gleichzeitig heftige Trotzanfälle mit langen Dauergenöhle hatten. Mein absoluter Nervenkiller, das Nöhlen. Wirkt bei mir in Bruchteilen von Sekunden! Diesmal: weil Mama Sohnis Laufrad dabei hatte, anstatt des Fahrradanhängers, in dem man sitzen kann (Tochter) und weil Mama Sohnis Laufrad dabei hatte und das soo toll ist aber plötzlich kann man nicht mehr Laufrad fahren. Auch nicht Laufen. Nur Brüllen, im Stehen oder Sitzen. Egal. (Sohn).
Nöööhl Nöhl Nöhl Kreisch. Vor der Kita, im Regen und im Wind. Ich mit schwerer Tasche in der einen Hand und Regenschirm in der anderen. Kinder hinterherzerren ist unschön. Beide tragen geht auch nicht. Warten, Aushalten. Nein, nicht Schreien! Hab ich nicht. Puh. Irgendwann trage ich Sohn, Tochter läuft mit. Und dann kommen beiden auf die Pfützen-Idee.
„DAHIIIIIN!“
Es war also wieder halbwegs Frieden eingekehrt. Ich erzähle von den Waffeln, die wir backen könnten. Und dann: sehen die Kinder auf dem kleinen aber windgeschützten Platz vor dem Altenheim ein Lagerfeuerchen in einem dieser Stahlkörbe lodern. Wie angewurzelt bleiben beide stehen und schauen in das Funken stiebende Orange-Gold. „DAAHIINNN!“, ruft die Tochter und stapft los.
Sohni und ich Hand in Hand hinterher. Mit von mir eingemahnten Abstand bleiben wir stehen. Zwei Frauen und ein Mann stehen um das Feuer herum. Der Mann schürt die Flammen, die Frauen rauchen und diskutieren. Hinter ihnen liegt hell erleuchtet das Seniorencafé. Wie auf einer Zuschauertribüne sitzen die alten Leute dort und schauen auf das Feuer. Einige von ihnen haben Decken auf dem Schoß und um die Beine gewickelt. Einige schauen auf meine beiden Kleinkinder und lächeln.
„So sehen Lumpen aus!“, sagt meine Tochter, als ein offensichtlich als Bettler verkleideter Mann zwei Strohballen heranschleppt, sie aufschneidet und das Stroh lockert. Später wird er von zwei anderen Männern in das Stroh drapiert: Der Bettler.
Ob alte Leute im Altersheim wirklich diese ganzen kindischen Bräuche anschauen möchten? Werden sie nicht alle wie Kinder behandelt, unwürdig?, frage ich mich beim Blick auf die infantilen Fensterbasteleien und das Lagerfeuer. Oder denken die Alten an Früher, an ihre eigenen Kinder und wie es damals war? –
Mit einem Mal tritt ein großgewachsener Mann aus dem Gebäude. Er trägt einen langen weißen Bart umgebunden, eine Bischofsmütze und einen langen rot-gelben Umhang.
„Mamaaa?“ – „Ja, Tochter, Sohn, schaut mal. Das ist der Sankt Martin.“
„HALLO SANKT MARTIN! HALLO SANKT MARTIN!“, brüllte Tochter. „Halloooo“, zwitscherte Sohni. Sankt Martin drehte sich zu meinen Kindern um, winkte lange in weißen Handschuhen, lächelt und stiefelt dann weiter in den Regen, um die Ecke des Hauses. Von dieser Ecke aus nähert sich nun eine Schar von Kindern nebst Frauen, alle in Regenklamotten, mit Regenschirmen. Die Kinder tragen leuchtende Laternen, in durchsichtige Tüten verpackt. „Gute Idee“, mache ich mir eine Kopfnotiz für den noch anstehenden Kindergartenumzug.
„Schaut mal, Kinder, ein Sankt Martinszug. Das ist wohl ein anderer Kindergarten, die haben heute schon ihren Umzug gehabt!“, ich hocke tief neben ihnen, zeige und erkläre. Die Kinder stehen still, Sohni wie selbstvergessen brav an meiner Hand.
(Ich denke kurz daran Fotos zu machen, traue mich aber nicht, weil ich Angst habe, dass Sohni ins Feuer läuft – oder zum Bettler. Es regnet schließlich und mein Regenschirm leistet uns gute Dienste. Außerdem würde es die Kinder so ablenken. Fotografierende Mama-Bloggerinnen müssen größere Kinder haben, oder weniger schnell weglaufende als meine. Jetzt würde ich die Fotos so gerne hier zeigen!)
Aus dem Haus treten nun Blasmusikanten und stellen sich unter den Baum, unweit des Feuers. Die Kinder und Frauen, es sind auch einige Männer dabei, stellen sich im Halbkreis um das Feuer auf. Wir sind Teil des Halbkreises geworden. Das Seniorencafe hat das Licht ausgeschaltet, damit jeder gut sehen kann. Die Kapelle spielt leise Sankt Martin, die Kinder singen. Tochter singt auch, ich stimme mit ein. Und muss zu meiner Überraschung fast heulen. Meine Stimme jault etwas. Die Tochter schaut irritiert zu mir, ich lächle sie an, wackele auf eigenartige Weise mit dem Kinn und den Mundwinkeln und singe weiter.
Dann kommt Sankt Martin auf einem wunderschönen Schimmel angeritten. Direkt auf uns Drei zu. Die Kinder wollen schon ängstlich davon laufen, aber das Pferdchen hält beide Ohren freundlich nach vorne, Sankt Martin schaut gütig von oben auf uns herab und ich nehme die Kinder in den Arm. Wir bleiben stehen, wo wir sind und Sankt Martin reitet im Kreis um das Feuer. Wir singen Sankt Martinslieder, der Bettler bibbert in seinem Stroh und ich versuche die Szene mit „Das ist Sankt Martin, der zeigt uns jetzt, wie es ist, wenn er durch Schnee und Wind reitet. Und da ist der Bettler. Dem ist kalt.“ zusammen zu fassen. „Der ist ganz aaaarm!“, sagt Tochter mitleidig.
Dann bleibt Sankt Martin vor dem Bettler stehen. Der Bettler steht auf und hält einen langen Monolog in veraltetem Deutsch. Wir verstehen kein Wort, doch der Mann ist mitten drin, in seiner Szene. Er geht auf das Pferd zu, gestikuliert, geht zurück, wieder nach vorn und schildert seine „große Not“. Das Pferd scheut ein wenig. Sankt Martin sagt auch noch etwas, zückt dann ein echtes, klirrendes Schwert und teilt den Mantel. Der Bettler legt sich den gleich um die Schultern und setzt sich damit wieder ins Stroh.
Sankt Martin reitet noch ein paar Runden und wir singen wieder. Das Pferd wird nun doch immer scheuer und Sankt Martin improvisiert: Er steigt ab, führt das Pferd an den Zügeln im Kreis herum. Die Kapelle spielt immer noch, es regnet weiterhin und Sankt Martin beginnt, den Kindern die Hand zu geben. Jedem einzelnen Kind. Meine Beiden halten den Atem an. Kommt Sankt Martin auch zu ihnen? Obwohl sie keine Laternen dabei haben und nicht zu diesem Kindergarten gehören? Er kommt. Lächelt. Reicht die Hand, Tochter ergreift sie und schaut Sankt Martin sehr lange an. Dann ist Sohn an der Reihe, der aber schüchtern ist und sich nicht traut. Ich nehme seine Hand und wir schütteln dem geduldig wartenden Mann zusammen die Hand.
Oh was für eine Aufregung! „Iss hab Sankt Martin die Hand gesssüttelt und der Sohni auch““ juchzt das Tochterkind und strahlt. „Iss will dem Bllettler auch die Hand sssütteln!“ Meine sonst eher scheue Kleine ist begeistert und kein bisschen ängstlich. Der Bettler steht gerade auf, beginnt auch, den Kindern die Hand zu geben. Tochter läuft zu ihm, reicht ihm ihre Hand und schaut ihn an. Der Bettler erkennt sie von vorhin am Lagerfeuer wieder, streicht ihr über den Kopf. Sohni schüttelt dem Bettler auch die Hand. Die Kinder schweben vor Glück durch den Regen zurück an unseren Platz im Halbkreis.
Dann trotten Pferd, Sankt Martin und Bettler um die Ecke des Hauses, die Kapelle wird still und die Kindergartenkinder setzen sich in Bewegung. Das Licht im Seniorencafe geht wieder an, die Alten schauen immer noch auf das Feuer und auf die Kinder. Ein paar erheben sich und gehen wackelig nach hinten in den Raum.
Wir gehen auch. „Iss hab Sankt Martin die Hand gessssüttelt. Und dem Bllettler auch!“ sagt die Tochter immer wieder. „Mei Maaatiin, Mei Maatin“, singt der Kleine.
Warum geht er nicht in ein Restaurant?
Auf dem Rückweg unterhalten Tochter und ich uns darüber, warum der Bettler so arm ist. „Warum kann er nicht in ein Restaurant gehen?“, fragt mich mein Stadtkind, als ich erkläre, dass er Hunger, nichts zu Essen und wahrscheinlich noch nicht mal ein zu Hause hat. Wir sprechen weiter darüber, was es bedeutet, arm zu sein.
„Dann schenke ich ihm was. Ich schenke ihm Schuhe und einen Mantel. Nein, Straßenschuhe hat er. Das hab ich genau gesehen. Aber er braucht eine Mütze. Und noch einen Mantel. Der vom Sankt Martin war ja nur dünn. Das kaufe ich ihm!“ ruft sie begeistert von der Idee, dem Bettler helfen zu können. Überhaupt, wie dem Bettler zu helfen sei, ist die große Überlegung des restlichen Nachmittags.
Waffeln und Kakao haben wir uns noch gegönnt, nach diesem Erlebnis. Wir haben es warm und lecker, die Kinder schmatzen und dem Bettler soll geholfen werden! Das steht fest.
Meine Tochter entdeckt Mitleid, Empathie und Hilfsbereitschaft. So war das bei uns, gestern Nachmittag.
Ich war ganz „HACHZ“! <3 Könnt Ihr Euch ja denken.
Ich hache mit und habe auch eine Träne verdrückt. Ärgere dich nicht, dass du keine Fotos zeigen kannst. Ich hatte die Szene ganz genau vor Augen!
Ja, und an der Stelle wo du nicht ohne Schlucken singen kannst….kenne ich verdammt gut, ganz speziell solche Momente und nur als Mama/Papa zu erleben. Trotz doofem Wetter eine ganz und gar heimelige und schöne Geschichte.
Hach, da geht mir als Rheinländerin verschlagen im „Heiden-Norddeutschland“ doch das Hächz auf. Und ich verrate Dir was. Der Augenblick war genau deshalb so schön, weil Du KEINE Fotos gemacht hast. *Schnief*
Sehr schöne Geschichte.
Und das bringt mich wieder auf die Idee beim Altenheim um die Ecke mal nachzufragen, ob man dort nicht in der Adventszeit ein Alt-erzählt-Jung-Weihnachtsgeschichten starten kann.
Danke für Eure lieben Kommentare. Ich brauche irgendeine Sternchen- oder Herzchen-Vergebe-Widget für Kommentare im neuen Blog. Ja, hätte ich Fotos gemacht, wäre die ganze „Konzentration“ und im Moment sein, weg gewesen. Ein Bloggerinnen-Dilemma. Ich brauche einen Assistenten! ;)
Dieses Heuli habe ich seitdem ich Mama bin, verstärkt. Es wird auch nicht weniger….
ob du es glaubst oder nicht, ich musste bei deiner Erzählung gerade wirklich fast weinen. Ich bin immer ganz gerührt von solchen Momenten, ich liebe sie einfach, diese kleinen Alltagsgeschichten, die einen an die eigene Kindheit erinnern und gleichzeitig aber auch erlauben, seine Kinder bei diesen ganz großen Momenten zu begleiten. Ich freue mich schon auf St. Martin. Nächste Woche ist es soweit.