Diese Mal blicken wir ganz weit über den Tellerrand, und zwar über den großen Teich, in die USA. Meine liebe Freundin Antje lebt dort seit einigen Jahren mit ihrer Familie. Ich bin ihr sehr dankbar, dass auch sie sich als nicht-Bloggerin von mir bequatschen ließ, für meine Reihe etwas beizufügen. Ich freue mich sehr über ihren interessanten und so differenzierten, weltoffenen und kritischen USA-Deutschland-Vergleich!
Finding Europe – Elternschaft anderswo ist eine neue Reihe mit Gastbeiträgen von anderen Blogger*innen sowie analogen Menschen ohne Blog, die von ihren Erfahrungen aus Europa berichten. Im Fokus der Erzählungen ist immer Elternschaft, Familie, Kindererziehung, Geburt und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Alles auf einmal oder nur einzelne Themen, aus anderen Ländern oder aus Deutschland.
Inspiriert dazu hat mich die republica 2015, meine Vorfreude und meine Faulheit: Da ich weiß, dass ich während der republica nichts bloggen werde aber auch unfähig zu faul bin, Blogposts für die Tüte zu schreiben, um sie in schlechten Zeiten zu veröffentlichen, kam ich auf der glorreiche Idee, das andere Leute für mich machen zu lassen. Da meine Abwesenheit vom Blog der republica geschuldet ist, und das diesjährige Motto “Finding Europe” lautet, war der Transfer in den Elternkosmos für mich ziemlich naheliegend.
Ähnlich wie die republica aber weniger umfassend, möchten alle Schreiber und ich einzelne Teile des Kulturraum Europa mit seinen Besonderheiten im Familienlebens beleuchten. Ich hoffe, es wird für Euch so unterhalten wie für mich. Ich lade Euch ein, lesend durch die Texte zu schlendern, sich zu amüsieren, vielleicht zu lernen oder neue Verknüpfungen herzustellen. Ob eine “Allianz von Ideen” oder Diversität von Werten im Vordergrund steht , eins ist klar: Familie und Elternschaft sind immer individuell. Das zeigt schon der deutsche Familienbloggerkosmos. Elternschaft ist aber auch immer gebunden an politische Systeme und Entscheidungen, nationale Gemeinschaften und historische Kontexte. Ich bin gespannt, wie Euch die Idee und die Texte gefallen. Ich jedenfalls freue mich auf alle meine Gastblogger*innen sehr.
Grüße aus den USA
Liebe Sonja,
Grüße aus den warmen amerikanischen Südstaaten, wo in vier Wochen die Sommerferien anfangen und die Tage mit Schulend-Hektik gefüllt sind. Du wolltest von mir wissen wie es ist, als Deutsche in den USA Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Ich überlege nun schon seit Tagen, wie ich das amerikanische sehr komplizierte und individuelle System in einem einigermassen interessanten Blogpost vermitteln kann. Und ich kann natürlich nur von mir erzählen.
Vorab erstmal ein paar Schocks für Europäer
Aber hier trotzdem erstmal ein paar politische Tatsachen über Familien in den USA, die für Europäer erstmal etwas schockierend sein können. Einer der Grundwerte der amerikansichen Gesellschaft ist, dass der Staat sich möglichst wenig in das Leben der Individuen einmischt. Für Familien ist die Konsequenz, dass man von der Geburt bis zum 4. oder 5. Lebensjahr auf sich allein gestellt ist. Das heisst, es gibt keinen Mutterschutz (aber bis zu 3 Monate unbezahlten Elternurlaub), keine Elternzeit, kein Kindergeld, keine reduzierte Wiederkehr in den Beruf. Erst für 4 Jährige gibt es in vielen Staaten öffentliche Kindergartenplätze. Dafür gibt es dann ab 5 Jahren Ganztagsschule für alle.
Kinderbetreuung in den USA
Als mein erstes Kind vor neun Jahren geboren wurde, war ich gerade an der Uni hier fertig geworden und hatte noch keine Stelle. Da wir in den Südstaaten leben, sind die Lebenshaltungskosten niedrig und ich blieb die ersten Monate erstmal zu Hause und wir lebten von einem Gehalt. Gute Kinderbetreuung zu finden ist in meiner Stadt kein Problem. Solange man bezahlen kann, gibt es alles was man braucht: Vollzeit “Daycare” manche sogar mit flexibler Abendzeit, Tagesmütter, Kindergärten mit Morgenprogramm die aber auch Tageweise die Kinder schon früher oder auch länger behalten, und schliesslich Nannies, Babysitter und Au-Pairs, falls die Zeit von 8 bis 5 nicht ausreicht.
Die Kinderbetreuung hier ist gut, unbürokratisch und liebevoll. Ich bin ehrlich so verliebt in den Kindergarten meiner Kinder, dass ich jetzt schon manchmal Tränen in die Augen bekomme, wenn ich dort bin, weil mein Jüngster im Herbst mit der Schule anfängt, und ich die Gemeinschaft in unserem kleinen Kindergarten sehr vermissen werde. Allerdings zahlen wir fuer diese Betreuung einen heftigen Preis. Gute Vollzeitbetreuung kostet in meiner Stadt um die $800 im Monat. Teilzeitbetreuung zwischen $300 und $500 je nach Stundenzahl. Wenn man also zwei Kinder unter 5 hat, ist das eine ganz schöne Rechnung!
Viele können sich Kinderbetreuung nicht leisten
Das heisst auch, dass sich viele Menschen nicht leisten können zu arbeiten, besonders Niedriglohnangestellte und Alleinerziehende, es sei denn, sie haben Hilfe von ihrer Familie oder ergattern einen der wenigen staatlich finanzierten Betreuungsplätze. Sie sind dann, solange die Kinder klein sind, von Sozialhilfe abhängig oder haben Schwierigkeiten für Miete und Essen aufzukommen. In der Schule meiner Tochter sind 40% der Kinder auf staatliche Schulspeisung angewiesen und Amerika hat eine der höchsten Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten der “entwickelten” Welt.
Die meisten Eltern arbeiten Vollzeit
Ob sie es wollen oder nicht, die meisten Eltern kehren beide schnell wieder Vollzeit zur Arbeit zurück. Halbtagsstellen für Karriereberufe gibt es wenig. Kinderbetreeung kostet mehr, je weniger man arbeitet. Außerdem sind Sozialleistungen wie Kranken-und Rentenversicherung sind oft an Vollzeitstellen geknüpft.
Ich habe bis jetzt Teilzeit gearbeitet. Das war eine Weile SEHR teuer, bis meine älteste Tochter in die Schule kam, aber ich hatte das Glück, dass es in meinem Beruf eine richtige Teilzeitstelle gab, also habe ich es auch genutzt. In meinem Freundeskreis gibt es viele Modelle, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Ein paar meiner Freunde haben sich selbständig gemacht, andere arbeiten Teilzeit von zu Hause aus. Ich hatte Glück und habe damals eine enge Gemeinschaft mit anderen Eltern von Kleinkindern gefunden. Die bestand aus drei Männern und vier Frauen, die ganztags mit ihren Kindern zu Hause blieben und der Rest von uns waren Frauen, die stundenweise gearbeitet haben, oder Uni-Dozentinnen mit Freisemester. Wir haben einander so viel geholfen.
Familien helfen sich gegenseitig: Babysitting-Coop
Viele Familien sind Teil von einem “Babysitting Coop”, in der sie gegenseitig auf die Kinder aufpassen. Als mein Sohn noch sehr klein war, hat eine Freundin für sehr wenig Geld für ihn gesorgt. Nach meinen Geburten brachten meine Freunde zwei Wochen lang abends gekochte Gerichte vorbei, die beste amerikanische Erfindung überhaupt! Viele Eltern fühlen sich isoliert, aber ich hätte es ehrlich nicht besser haben können.
Der Arbeitsmarkt ist flexibel und offen
Einfacher als in Deutschland ist der relative flexible Arbeitsmarkt. Lehrer, die plötzlich Software-Programmierer werden, oder Sozialarbeiter, die in der Gärtnerei arbeiten wollen, sind hier einfach ganz normal. Das macht den Wiedereinstieg oft einfacher, aber das gilt natürlich nicht für alle Berufe.
Mommy Wars?
Du hast mich auch nach den “Mommy Wars” gefragt. Die gibt es unter Eltern von kleinen Kindern sicher, vor allem im Internet. Inzwischen glaube ich, der Schlafverlust macht uns da alle nicht nur kirre sondern agressiv. Und bei “Babycenter” lebt sich das viel besser aus, als mit einem richtigen Menschen der einem gegenüber sitzt. Bei meiner neunjährigen Tochter stelle ich auf jeden Fall nichts mehr von “Mommy Wars” fest. Es interessiert niemanden mehr, wie man sein Familienleben organisiert. Es ist den meisten Leuten auch vollkommen egal, was andere über sie denken. Klar gibt es Menschen, hier in den Südstaaten besonders konservatv-christliche, die eindeutig eine Meinung darüber haben, was das Beste für alle Familien wäre, aber auch die halten sich, im täglichen Miteinander, zurück. Ich sage denen im Gegenzug dann auch nicht, was ich darüber denke, wenn man bei der Hochzeit schwört, seinem Ehemann gehorsam zu sein!!!
Viele Parallelen im Leben der amerikanischen und deutschen Mütter
Ich frage mich oft, ob und wie mein Leben anders aussehen würde, wäre ich in Deutschland geblieben. Wäre ich zufriedener, weil ich beruflich oder finanziell weiter wäre? Oder wäre alles auf eine ganz ähnliche Lösung rausgelaufen? Ich bereue eigentlich nichts. Ich wünschte, ich wäre in meiner Studienwahl weniger naiv gewesen. Aber das ist sicher das weltweite Mantra aller Geisteswisenschaftler! Ich finde interessant wie viele Parallelen es vor allem im Leben vieler Mütter in beiden Ländern gibt, obwohl die Bedingungen so anders sind. Ich finde mehr Solidarität würde uns allen gut tun! Ich wünsche mir für meine neue Heimat, dass der nächste Schritt in der Einführung eines umfassenden Krankenversicherungssystems der dreimonatige Mutterschutz für alle ist!
Weitere Artikel dieser Reihe
Finding Europe – Elternschaft anderswo. Sarah über die DDR. Geschichten aus Deutschland
Finding Europe: Elternschaft anderswo. Susanne aus Andalusien
Finding Europe – Elternschaft anderswo. Alex und Ingunn aus Norwegen
Finding Europe – Elternschaft anderswo. Lotte aus Düsseldorf lebt multikulti
Bin auch in den USA, wenn auch in einer anderen Gegend und kann das, was Antje schreibt total bestätigen. Antje, du bringst meine Gedanken zum Thema Vereinbarkeit etc. gut auf den Punkt und wenn Du nicht so weit weg wärst, würde ich gern mal mit dir Kaffee trinken :-) Bei uns im Mittleren Westen, in einer Gegend mit ebenfalls nicht besonders hohen Lebenshaltungskosten, kostet die Kinderbetreuung noch ein bißchen mehr: für 2-3jährige Kinder um die $ 250 pro Woche (!). Bei zwei Kindern summiert sich das ganz schön, und das Lohnniveau ist keineswegs höher als in Deutschland. Ich kenne niemanden, der es sich leisten kann, das Kind oder die Kinder Vollzeit, also 5 Tage die Woche betreuen zu lassen, ohne dass beide Partner Vollzeit arbeiten. In meiner Gegend gehen aus Kostengründen viele Kinder deshalb nur 2-3 Tage die Woche in den Kindergarten. Mit 5 Jahren kann man dann in die Vorschulklasse, die Teil der staatlichen Schulen ist und somit kostenlos.
Zweiter Punkt, den ich unterschreiben kann: Es ist den meisten Menschen hier total egal, was wer über sie denkt. Ich kenne das aus meinem Alltag hier auch nicht, dass geredet, gelästert, geurteilt wird, anders als in Deutschland, wo ich schon wildfremden Leuten auf dem Spielplatz meine Kinderwagenwahl erklären sollte…
Viele Grüße und danke Sonja, für die interessante Reihe!
Danke Eva!