Diesen Morgen saß ich geschockt vor den Nachrichten. Brexit. Eine Einheit droht zu zerfallen. Ich bin Deutsche und fühle mich als Europäerin.
Als ich Kind war, haben wir Urlaube in Spanien, Österreich und Italien verbracht. Als ich 19 Jahre alt war, habe ich ein Jahr lang in Frankreich gelebt, mit 23 in London studiert und die Vorzüge als EU-Bürgerin und Studentin genossen. Das Erasmus-Programm muß jetzt neu verhandelt werden. Ich habe Freund*innen überall in Europa, sogar verteilt auf weiteren Kontinenten. Ich bin Deutsche und fühle mich als Europäerin. (Danke Stadt Land Mama für die Vorlage <3)
Bis gestern Abend habe ich den Brexit nicht für möglich gehalten. Ich habe schlicht nicht geglaubt, dass es so schlimm werden könnte. Wie gesagt, ich habe in London gelebt, ich kenne die Attitude gegen „the continent“, gegen Deutschland, Frankreich, Belgien, Brüssel und viele mehr. Gegen die EU. Aber ich habe immer geglaubt, dass die Einsicht, dass nur eine Einheit den Frieden (und meinetwegen die wirtschaftlichen Interessen) sichern können, größer sind, als die Extravaganz der Briten.
Was ich außer Acht gelassen habe, war die Wirkungsmacht von Angst, Nationalismus und populistischer Propaganda.
Egal, was jetzt passiert. Ob es jahrelange Verhandlungen gibt, wie Großbritannien der EU nach Artikel 50 des EU Vertrags kündigen wird, wie die Beziehungen zwischen EU und UK dann aussehen werden (interessant, kurz und knackig zu lesen bei Novemberregen und hier erklärt von der SZ); oder ob es in den Neuwahlen eine Opposition geben wird, die mit dem Ziel, in der EU zu bleiben auftritt; oder ob die Schockwellen, die gerade auf den Märkten eintreten (das englische Pfund verliert dramatisch an Wert) ein Umdenken bewirken, mir drängt sich eine ganz besondere Sorge auf.
Meine Sorge
@Mama_notes and don’t forget #Trump#lasttweet
— Sonja (@Mama_notes) June 24, 2016
Ich weiß, dass zur Wahl „Leave“ auch die Abwahl von Cameron und viele weitere inner-britischen Themen rein gespielt haben. Und schon heute morgen um 7 Uhr wurde der populärste und für viele Wähler wohl ausschlaggebende Slogan, wöchentlich 350 Mio Pfund, die angeblich (und diese Summe ist falsch) in die EU flossen, nun in den National Health Service gesteckt würden. Nein, das könne er nicht garantieren, meinte Farage. Watch this video….
Der Brexit macht mir deswegen Angst, weil erweitere EU-Austritte vorbereiten kann. Schon werden Stimmen in Schottland, Irland, Niederlande laut, die auch ein Referendum zu einem Austritt wollen. So unterschiedlich die Beweggründe dazu sein mögen, die Schotten beispielsweise waren geschlossen für „Remain“, die Austrittswünsche und -Bewegungen könnten die EU auseinander reißen. Diese Austrittswünsche fußen auf Nationalismus, auf Rassismus, auf Ausgrenzung.
Die Briten sind Freundinnen und Freunde – waren es und werden es immer sein.
Angst habe ich vor dem Gespenst Faschismus und den Le Pens, Wilders, Petrys und Storchs, Putins, Trumps und Farages dieser Welt.
Auswandern? Nein.
Das Gespenst ging auch herum in den Social Media. Das macht mich ebenfalls wütend und traurig. Ist das die Antwort der politisch Verantwortlichen auf das, was gerade passiert? Jaja, jetzt aufstehen gegen die Rechten aber schonmal Auswanderpläne schmieden? Ich verstehe, ich will auch mit dem Scheiß am liebsten nichts zu tun haben. Haben wir aber. Und die einzigen, die da etwas ändern können, sind wir.
Was ich mir wünsche?
Frieden. Freiheit und Demokratie. Ich wünschte mir ein einheitliches Europa mit starken, guten Beziehungen zum Rest der Welt. Ich wünsche mir, dass das europäische Versprechen an seine Ursprünge erinnert und aus ihnen heraus eine aktuelle, transparentere und demokratische Politik entwirft. Ich wünsche mir, dass dieser Tag Anlass werden könnte, die EU Politik transparenter und besser kommuniziert zu machen. Ich wünschte mir, dass in unserer europäischen Gesellschaft endlich keine Unterdrückung von Minderheiten mehr gibt, dass es niemals wieder bewaffnete Konflikte geben wird.
Weitere Texte zum Thema das Europäische Versprechen findet Ihr bei Johannes Korten.
Was tun?
Reden? Texte schreiben? Auf die Straße gehen? Flüchtlingen helfen? Rassismus widersprechen, auch in den leisen Nebensätzen? Unseren Kindern eine weltoffene und menschenfreundliche Haltung vorleben? Kritisch bleiben und schnellen Parolen nicht glauben? Sich mehr mit den Hintergründen der EU-Politik beschäftigen? Laute kleine Dinge tun?
All das. Ich bin Europäerin.
Hallo Sonja,
das hat jetzt keiner vorhergesehen, wirklich nicht? Die Briten wurden über Jahre hinweg mit anti-europäischen Parolen bearbeitet, sowohl von Rechtspopukisten als auch den Medien und Teilen der konservativen Partei. Da soll auf einmal ein Votum pro EU herauskommen?
Momentan sehe ich das gelassen. Die Briten müssen ihren eigenen Weg machen. Das ist auch Teil meiner liberalen Überzeugungen, dass Eigenständigkeit und Selbstbestimmung wichtig sind. Manchmal lernt man eben nur am Schmerz und am Misserfolg, den man sich selber zufügt. Ist ein bisschen so wie in der Kindererziehung. Selber auf die Nase fallen, das ist erst, was den Lerneffekt bringt. Außerdem: die Schotten und möglicherweise auch die Nordiren werden wir der EU wieder begrüßen können, da bin ich mir aber sicher.
Für Europa ist eben mehr nötig als nur gemeinsame Wirtschaftsnormen. Europa ist ein Gefühl. Die Briten haben es mehrheitlich niemals besessen. Daher ist der Brexit für mich kein Verlust.
Ich gebe Dir allerdings Recht, sollte das Schule machen haben, dann haben wir ein enrsthaftes Problem. Sobald noch irgendein anderer Staat austreten will, kann das die Existenz der EU beenden.
Hallo Sonja,
ich lebe in London mit meinem englischen Mann und 2 Toechtern (deutsch-britisch!). Dass wir in einem der 5 Bezirke Londons leben, die mehrheitlich fuer Leave waren, ist kein sehr erbaulicher Gedanke.
Das Ergebnis war und ist ein Schock, der immer noch sitzt. Alle meine europaeischen Freunde hier haben sich mit Gefuehlen konfrontiert gesehen, die wir persoenlich so noch niemals hatten. Alle von uns merken, dass wir von einem Tag auf den anderen anders angesehen werden. Natuerlich weiss man nie, ob es nur die normale Neugierde ist, welche Sprache wir da mit unseren Kindern sprechen, der wir da begegnen – aber seit Freitag fuehlt es sich sehr so an, als muesste man sich dafuer rechtfertigen, warum man ueberhauopt hier ist. Viele haben auch schon direkte verbale Angriffe erlebt.
Zuerst war ich nur fuer mich selber und unsere Situation hier traurig – denn ich glaube nicht, dass ich meine Kinder in einem Land grossziehen moechte, das sich direkt von einer Institution, die ‚over-all‘ so viele Vorzuege und grossartige Ideale hat, abwendet – aber dann bekam ich zig Nachrichten von rein britischen Freunden, die sagten, sie fuehlten sich hier eingeschlossen. Meine Familie und ich koennen jederzeit zurueck nach Deutschland – meine britischen Freunde haben eventuell bald keine Alternative mehr. Das stimmt mich ungemein traurig.
Die Stimmung hier ist sehr gedaempft und eigenartig. Man wird sehen, wohin das alles fuehren wird, was passieren und wie lange es dauern wird etc. – aber ich denke, eines ist leider sicher: Grossbritannien ist nicht mehr, was es war. Ja, davor gab es auch schon negative Stimmen gegen Auslaender – aber jetzt scheinen sich die Kleingeister bestaetigt und ermuntert zu fuehlen, es oeffentlich sagen zu duerfen. Und das ist wirklich entsetzlich.
Kathrin
Vielen Dank für Deine Beschreibung der Stimmungslage. Das klingt alles eher bedrückend und ich hoffe irgendwie, dass das rassistische und rechtsnationale Aufbäumen ind Großbrittannien nicht ausartet.