Séverine bloggt auf Mama on the Rocks über ihre Familie und ihre Kinder mit den tollen Blognamen Lady Gaga und Copperfield äußerst amüsant und kurzweilig. Für meine Reihe hat sie sich die Familienpolitik der Schweiz einmal näher angeschaut und auch mit anderen Ländern verglichen. Vielen Dank für diesen kritischen Blick und dem Plädoyer für eine verbesserte Familienpolitik und Infrastruktur zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Schweiz!
Finding Europe – Elternschaft anderswo ist eine neue Reihe mit Gastbeiträgen von anderen Blogger*innen sowie analogen Menschen ohne Blog, die von ihren Erfahrungen aus Europa berichten. Im Fokus der Erzählungen ist immer Elternschaft, Familie, Kindererziehung, Geburt und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Alles auf einmal oder nur einzelne Themen, aus anderen Ländern oder aus Deutschland.
Inspiriert dazu hat mich die republica 2015, meine Vorfreude und meine Faulheit: Da ich weiß, dass ich während der republica nichts bloggen werde aber auch unfähig zu faul bin, Blogposts für die Tüte zu schreiben, um sie in schlechten Zeiten zu veröffentlichen, kam ich auf der glorreiche Idee, das andere Leute für mich machen zu lassen. Da meine Abwesenheit vom Blog der republica geschuldet ist, und das diesjährige Motto “Finding Europe” lautet, war der Transfer in den Elternkosmos für mich ziemlich naheliegend.
Ähnlich wie die republica aber weniger umfassend, möchten alle Schreiber und ich einzelne Teile des Kulturraum Europa mit seinen Besonderheiten im Familienlebens beleuchten. Ich hoffe, es wird für Euch so unterhalten wie für mich. Ich lade Euch ein, lesend durch die Texte zu schlendern, sich zu amüsieren, vielleicht zu lernen oder neue Verknüpfungen herzustellen. Ob eine “Allianz von Ideen” oder Diversität von Werten im Vordergrund steht , eins ist klar: Familie und Elternschaft sind immer individuell. Das zeigt schon der deutsche Familienbloggerkosmos. Elternschaft ist aber auch immer gebunden an politische Systeme und Entscheidungen, nationale Gemeinschaften und historische Kontexte. Ich bin gespannt, wie Euch die Idee und die Texte gefallen. Ich jedenfalls freue mich auf alle meine Gastblogger*innen sehr.
Eltern sein in der Schweiz
Vor kurzem titelte die grösste Schweizer Pendlerzeitung in einem Bericht: «Für Mütter ist die Schweiz nahezu paradiesisch». Beim Lesen dieser Zeilen dachte ich spontan: WTF?!
Ich wohne in der Schweiz, bin Schweizerin. Und ich finde keineswegs, dass es hier paradiesisch für Mütter zu und her geht. Gut, im Vergleich zu einem Drittweltland, wo die Kinder wegsterben, ist alles paradiesisch. Der Artikel bezog sich denn auch auf die Auswertung des aktuellen Berichts von Save the children, in dem 179 Länder in Bezug auf 5 Indikatoren verglichen wurden: Müttergesundheit, Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren, Schulbildung, ökonomischer Status, politischer Einfluss von Frauen. Die Schweiz rangiert auf Platz 13. Das ist gut.
Dass die nordischen Länder die vorderen Ränge belegen, ist klar. Dort wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf aktiv vom Staat gefördert. Vor der Schweiz sind aber auch Spanien (Platz 7), Deutschland (Platz 8) und Italien (Platz 12) gelistet, irgendetwas haben wir in der Schweiz also vergurkt.
Es liess mir keine Ruhe. Ein Blick in die Studiendaten von Save the children zeigt folgendes Bild:
- Müttersterblichkeit: Norwegen 1:14‘900 – Deutschland 1:11’00 – Schweiz 1:12‘300
- Kindersterblichkeit Norwegen 2,8 von 1000, Deutschland 3,9 von 1000 – Schweiz: 4,2 von 1000.
- Jahre der Schulbildung: Norwegen 17,5 Jahre, Deutschland 16,5 Jahre – Schweiz 15,8 Jahre.
- Einkommen pro Kopf: Norwegen 102‘610 USD, Deutschland 47‘270 USD – Schweiz 90‘760 USD.
- Einfluss der Frau, gemessen an der Präsenz in der Politik: Norwegen 39,6% – Deutschland 36,9% – Schweiz 28,5%.
Diese Zahlen muss man erst mal sacken lassen.
Was läuft bei uns schlechter als in Deutschland und Norwegen? Die Frauen sind in der Schweizer Politik eindeutig unterrepräsentiert. Solange das der Fall ist, werden wir nie ein Gesetz einführen, das Müttern bessere Möglichkeiten gibt, nach der Geburt der Kinder wieder ins Berufsleben einzusteigen. Und solange auch die Frage der Väter aussen vor bleibt, ist echt alles im Argen im Paradies.
Fakt ist: keine Elternzeit oder Vaterschaftsurlaub, wenig Teilzeitstellen, gute Krippen
In der Schweiz gibt es keine Elternzeit, sondern nur einen «Mutterschutz» oder «Mutterschaftsurlaub »für die Dauer von 14 Wochen bzw. 98 Tagen nach der Geburt des Kindes. Man erhält in dieser Zeit 80% des Lohns in Form von Taggeldern. Je nach Arbeitgeber stockt dieser aus eigener Tasche auf 100% Lohn auf. Es gibt auch Unternehmen, die aus eigener Tasche den Mutterschaftsurlaub auf ein halbes Jahr verlängern. Ich selber habe das aber nicht erlebt. Nach den 14 Wochen kann man zurück an die alte Stelle, doch zu welchen Konditionen? Oftmals ist eine Teilzeitstelle aus Sicht des Arbeitsgebers nicht gewünscht, man trennt sich. Ich selbst habe nach der Geburt meiner Tochter direkt wieder 80% gearbeitet – aus Angst vor einer Karriereeinbusse.
Noch prekärer ist es bei den Männern: Einen gesetzlich geregelten Vaterschaftsurlaub oder eine Elternzeit kennen wir in der Schweiz nicht, d.h. Väter haben je nach Arbeitgeber 1–5 Tage frei. Aktuell gibt es allerdings einen Gesetzesvorstoss für zwei Wochen bezahlten Vaterschaftsurlaub. Ob dieser von der Bevölkerung (wir stimmen ja über alles ab) angenommen wird, wage ich aber zu bezweifeln. Die Schweiz denkt bekanntermassen konservativ. Wieso? Meine ganz persönliche Meinung: Da man in der Schweiz ab 18 Jahren bis zum Tod abstimmen darf und die Abstimmungsrate der älteren Generation einfach höher ist als die der jüngeren, ist das Dilemma vorprogrammiert. Bei manchen Abstimmungen wünschte ich mir, der Staat würde das einfach festlegen und gut ist.
Nein, es gibt keine wirkliche Familienpolitik in der Schweiz, zumal oft jeder Kanton sein eigenes Süppchen kocht. Es braucht definitiv eine gesetzlich verankerte, bessere Infrastruktur zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gute, attraktive Teilzeitstellen sind Mangelware. Mein Mann arbeitet in der Informatik – eine 50-80%-Stelle ist da absolut undenkbar. Als Mann ist eine Teilzeitstelle bei uns sowieso ein rotes Tuch! Es wird vorausgesetzt, dass der Mann 100% arbeitet. Und es wird auch vorausgesetzt, dass die Frau bei den Kindern bleibt. Aber im gleichen Atemzug soll sie bitte auch arbeiten und Geld verdienen. WTF? Da ist doch der Wurm drin.
Ja, wir haben gute Krippen. Ich stand noch nie auf einer Warteliste. Unsere Krippe ist von 6.30 Uhr bis 18.15 Uhr geöffnet, es sind tolle Betreuerinnen, gute Verhältnisse. Ich gebe meine Kinder sorglos in ihre Obhut. Für zweimal einen halben Tag LadyGaga (5) und anderthalb Tage Copperfield (1) bezahlen wir 1300 Euro im Monat. Ich bin selbständig und habe ein unregelmässiges Einkommen. Muss ich noch mehr sagen?
Wer in der Schweiz Karriere machen und Mutter sein will, muss in der Schweiz vor allem eines: sich selbständig machen, unabhängig von einem Arbeitgeber oder vom Staat sein. Dann klappt das. Aber das können bei weitem nicht alle.
Spannend und schon wieder anders als in der Westschwei (es lebe der „Kantonsgeist“!).
Die Kommentarfunktion ist etwas eng darfür, ich glaube, ich beantworte den Artikel in meinem Blog.