Das hier ist keine Buchkritik, das ist eine persönliche Schilderung meiner Leseerfahrung mit diesem Buch.
„Arbeit und Struktur“ hat mich sehr berührt; fast mehr als ich aushalten konnte. Das Buch handelt vom Sterben Wolfgang Herrndorfs – und von seinen letzten drei Jahren Leben. Es ist ein unsagbar trauriges, tragisches Buch. Und ein überraschend lustiges.
Wolfgang Herrndorf hat nach seiner Diagnose eines unheilbaren Hirntumors begonnen, ein Blog zu schreiben. Zunächst als Informationsquelle für Familie und Freunde gedacht, erschloss sich dem Blog rasch eine große Leserzahl. Im August 2013 hat er sich, nachdem es ihm immer schlechter ging, das Leben genommen. Ein Plan, den er ganz zu Beginn der Diagnose gefasst hatte, für den er sich auch gleich zu Beginn eine Pistole gekauft hat: Er wollte „Herr im Haus“ bleiben. Das hat ihn beruhigt. In seinen letzten drei Lebensjahren vollendete und veröffentlichte Wolfgang Herrndorf seine Romae „Tschick“ und „Sand“, ein weiterer, „Isa“, ist wohl nicht ganz fertig geworden. Hier ein Link zu seinen anderen Werken.
Nun, meine Lektüreerfahrung: Das Buch zwang mir nahezu die Identifizierung auf, der neutrale Ton und die betonte Sachlichkeit lassen Raum für eigene Projektionen. Was mich beim Lesen im ersten Teil eiskalt erwischte und tagelang verfolgte, war Wolfgang Herrndorf Todesangst und seine daraufhin hereinbrechende Manie. Diese beschreibt Herrndorf in einer Rückschau. Es erinnerte mich an Stefan Zweigs „Schachnovelle“ oder Umberto Eco: ich folge den manischen Ausführungen, nachvollziehe die inhärente Logik. Und obwohl ich erkenne, dass es hysterisch und wahnsinnig ist, kann ich der manischen Logik folgen. Das ist ein unheimliches und beängstigendes Erlebnis. Mir nahm das streckenweise den Atem.
Das Buch hat mich mit dem Wahnsinn konfrontiert, mit manischem Denken und seinen in sich so logisch erscheinenden Strukturen. Und es hat mich mit der Schönheit der Welt konfrontiert, die Herrndorf immer wieder beschreibt, obwohl es ihn dabei schmerzt:
Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.
Kleine Kinder, die nichts von ihrer Sterblichkeit wissen und schon gar nicht vom Zeitpunkt des Todes. So schreibt er beim Anblick eines kleinen Jungen mit riesigem Tornister: „Er weiß es nicht, er weiß es nicht!“
Obwohl das Psychologische, die Innenschau und Schilderung seiner Gefühle fast gänzlich fehlen, lassen diese ungesagten Momente Freiraum für den Leser, seine Gefühle, Ängste, Schlüsse. Und selbstverständlich hat Herrndorf das so gewollt, geplant, konstruiert. Die Literaturzeitschrift Glanz und Elend nennt das Buch „ein zeitloses, literarisches Kunstwerk“, und das ist es auch. Das ist es, was den Lesestoff erträglich macht, was sogar innerlich beglückt, bei so viel sprachlicher Schönheit und gedanklicher Klarheit. Welch Kunstfähigkeit, gerade bei einem Autor in Lebenskrisen wie seiner!
Was dann folgt, ist meine wirklich große und tief empfundene Bewunderung vor dem klaren Geist Herrndorfs, vor seinem Wissen, seiner Klugheit, Belesenheit, Intellektualität, vor seinem Humor, Witz, seiner Komik! Wie er sein verbleibendes Leben betrachtet und wie er die Kraft aufbringt, sich seiner Arbeit hinzugeben und so Halt und Struktur zu finden. Ich bewundere ihn auch dafür, dass er das Glück und die Fähigkeit hatte, derartig wunderbare, aufrichtige und gute Freunde zu finden, wie Herrndorf sie schildert. Sie kümmern sich ohne aufdringlich zu sein, sie helfen ohne übergriffig zu werden und sie unterstützen ohne ihre eigene Trauer auf den Kranken abzuladen.
Herrndorfs Schreiben ist verdichtete, literarisierte Masse, die berührt, haut um, verwundert, verblüfft. Es kann Lachen machen, Weinen, Verzweifeln, traurig aber auch klüger als zuvor. Seine Ironie, sein Galgenhumor, sein bestimmt nicht unfreiwillige Komik erheitern, bauen wieder auf. Trotz all der Tragik und Trauer schließe ich die Buchdeckel mit Trost, Bewunderung und Dankbarkeit, dass er das alles genauso geteilt hat.
Dies ist eine absolut dringende und herzliche Leseempfehlung.
25.3.2013: Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.
Blog: Arbeit und Struktur
Gut gefundene Kritiken und Nachrufe:
Die Welt: Der Mann, der aus der Welt gefallen ist
Glanz & Elend: Ein zeitloses, literarisches Kunstwerk
RBB Kulturradio
Ocelot: Frank Berzbach über Wolfgang Herrmanns Arbeit und Struktur
Die Zeit: Er war krank. Was sind wir?
Danke für diese tolle Kritik. Ich werde das Buch sicher lesen. :-)
Oh das klingt ja begeistert. Wenn ich mal wieder Zeit habe zum Lesen eines Buches (HAAAAAAAAAAHAAAAAAAAAAAAHAAAAAAHHAAHAHA ;-) dann ganz sicher dieses! Hast mir sehr Lust aufs Lesen gemacht! Danke =)