Keine Gewalt an Kindern! Das ist nicht nur eine Forderung, sondern ein Gesetz. Seit dem Jahr 2000 ist die so genannte körperliche Züchtigung in der Erziehung verboten. Leider ist das Ziel noch lange nicht erreicht. Aber anlässlich der Stern-Nachricht von Jamie Oliver und wie er seine 12jährigen Tochter mit der schärfsten Chili der Welt echtem Schmerz und tatsächlicher Gefahr aussetzte, ist das Thema im Netz wieder präsent. Mit Recht, wie ich hinzufügen möchte.
Mir wird nicht nur übel bei solchen und schlimmeren Meldungen, die von Gewalt an Kindern berichten, so erschrocken bin ich auch, wie weit Wut, Machtgefüge und -gebaren – und wie auch immer geartete traumatische Erlebnisse in der eigenen Kindheit gehen, die Gewalt an Kindern zulassen.
Gewalt an Kindern, dazu gehören nicht nur Schläge, sondern auch psychische Gewalt, Verwahrlosung, Liebesentzug, Desinteresse…. Was Gewalt an Kindern für die Kinder bedeutet, beschreibt Susanne auf ihrem Blogpost „Nicht nur Schlagen ist Gewalt“:
„Auch wenn diese Gewalt nicht mehr als Erziehungsmittel mit Vorsatz verwendet wird, ist sie dennoch schwerwiegend für die kindliche Entwicklung. Gewalthandlungen wirken sich schwer auf die kindliche Entwicklung aus, auf die Bindung und Bindungsfähigkeit, auf das Urvertrauen, auf hormonelle Abläufe im Körper bei Stress, auf die seelische Gesundheit allgemein und auch auf die spätere Entwicklung. Gewalt ist und bleibt schädlich für Kinder.“
Susanne ruft anlässlich dessen an einer Blogparade auf, die sich mit dem Thema „Keine Gewalt an Kindern“ auseinander setzt. Dabei mache ich sehr gerne mit.
Die Wut, Überforderung und Hilflosigkeit
Gleichzeitig widerstrebt es mir, die verzweifelten Mütter und Väter in Grund und Boden zu schreiben, denen einmalig „die Hand ausgerutscht“ ist. So sehr ich diese Formulierung schon grob verharmlosend finde, gibt es das: Der einmalige Klaps bei völliger Überforderung. Es ist dennoch Gewalt an dem Kind, das möchte ich klar betonen. Und es ist nicht in Ordnung. Ich will unten im Text ein paar Tipps aufzählen, die ich bei meiner Recherche im Netz gefunden habe, was Eltern tun können, die sich zu diesem einmaligen Klaps haben hinreißen lassen. Und auch weitere Tipps, wie Eltern damit umgehen können, wenn sie merken, die Anforderung wachsen ihnen über den Kopf und die Wut wird zu groß und eine Ohrfeige wiederholt sich…
Ich möchte keine Menschen verurteilen, sondern nur Handlungen und Haltungen. Ich möchte gerne, so weit ich das kann, mental unterstützen. Weil, ehrlich gesagt, bin ich demütig und dankbar, dass Gewalt an Kinder nicht mein Thema ist. Denn die Wut, die Weißglut kenne ich. Ich kenne auch das zu laute Schimpfen und habe darüber gebloggt. Wie oft habe ich vor meinem komplett eskalierten Kleinkindern gestanden und nicht gewußt wohin mit mir…
Wie oft war ich „die wütende Mutter auf dem Supermarkt-Parkplatz“ aus dem Artikel – gerne auch sonstwo. Wie oft stand ich ohnmächtig vor Wut und Verzweiflung, Erschöpfung und vorallem Ratlosigkeit: Was soll und kann ich jetzt noch tun? Der Moment in dem mir nichts mehr einfiel. Kein Schreien, kein Ermahnen, kein Rumbrüllen, sondern nur starr und angespannt dastehen. Im Zweifel ohne zu atmen. Einmal fing ich sogar an zu hüpfen – oder zu stampfen – wie ein Rumpelstilzchen. Ja, peinlich war das!!! Hat aber zum Abreagieren geholfen. Der Artikel sagt, das wären die Momente, in dem ich die Kinder nicht geschlagen hätte. Habe ich nicht, aber keine Ahnung, ich hatte den Impuls nicht. Aber die Wut, die einen komplett kirre macht, kenne ich.
Ich habe Mitleid mit den überforderten Eltern, die eine Ohrfeige geben, obwohl ich weiß, dass das die eine Seite der Medaille ist. Die andere Seite ist die Gewalterfahrung des Kindes, sein körperlicher Schmerz und der seelische, weil Mama oder Papa, die Personen, denen das Kind am meisten Vertrauen soll, sie geschlagen hat. Die Vorstellung ist herzerweichend.
Ein Artikel, in dem wir uns alle einig sind, das Schläge, Schreien und sonstwas an Kinder nicht geht, hilft den vom Gewalt-Impuls betroffenen Eltern und ihren Kindern nicht viel.
Adressen, an die man sich als betroffene Eltern werden kann
Wer merkt, dass die Wut überhand nimmt, häufiger wird, dass man sich schlecht kontrollieren kann in Momenten der Wut – oder so etwas beobachtet hat, wendet Euch an Beratungsstellen. Sie sind kostenlos und helfen!
- Das Jugendamt der Stadt (nein, wer hier Hilfe und Beratungsstunden sucht, muß keine Sanktionen befürchten!)
- Hilfsangebote der Diakonie
- Den Ortsverband des Kinderschutzbundes
Informationsmaterial für betroffene Eltern gibt es beim Kinderschutzbund per Email zu bestellen. (nach unten scrollen)
Tipps zur Kontrolle von Wut und Aggressionen
Ich habe in meinem Text über das Brüllen und Schimpfen einen kleinen Deeskalationsplan, also Tipps zusammen geschrieben, um dem Brüll-Impuls nicht folge leisten zu müssen. Ganz unbedarft würde ich den auch bei allen anderen Wut- und Aggressionsimpulsen empfehlen. Habe ich ganz unten im Text nochmal für Euch reinkopiert.
Was sollten Eltern tun, die geschlagen haben:
- Sich beim Kind ehrlich entschuldigen. Um Verzeihung bitten. Keinesfalls versuchen, das Schlagen irgendwie zu rechtfertigen.
- Seine eigene Haltung hinterfragen – und Hilfe suchen. Hilfe suchen ist in dieser Gesellschaft ja leicht verpönt. Das ist sehr schade. Es wird gleichgesetzt mit Schwäche, mit Unwissen, mit Versagen. Ich sehe das ganz anders und habe schon öfter erzählt, dass ich Erziehungsberatung in Anspruch genommen habe – und nehme. Daran ist nichts ehranrührendes, echt nicht.
- Im Internet erste Ratgeber und Tipps zum Thema Konsequenz lesen.
- Sich selbst verzeihen. Sich Hilfe holen. Sich selbst verzeihen – und es besser machen.
25 Jahre Kinderrechtskonvention – und die deutsche Verfassung schützt Tiere und Umwelt, nicht die Kinder
Als letztes möchte ich auf einen relativ aktuellen Artikel von Heribert Prantl aus der Süddeutschen verweisen, „Mit Herz und Grundgesetz“. Der zum 25. Jahrestag der Kinderrechtskonvention, die Deutschland mit zeichnete, daran mahnt, dass der Schutz auf Unversehrtheit der Kinder noch immer nicht im Grundgesetz verankert ist. Nie hatte ich darüber nachgedacht, aber als ich es las, wurde ich wütend.
In welchem Jahrhundert leben wir denn? Das Recht auf Gewaltfreiheit für Kinder sollte viel stärkter ins Allgemeinwissen, in die Aufmerksamkeit der Gesellschaft gerückt werden. Das verrückte ist: Obwohl viele Menschen Gewalt an Kindern grundsätzlich ablehnen, ist „doch so ein kleiner Klaps auf die Finger“ für manche keine Gewalt. Ich mußte so eine Diskussion leider mal führen – und stieß auf eine Mauer von „Nein, das ist keine Gewalt. Das kann nicht schaden. Woran soll ein zweijähriges Kind denn sonst merken, dass es xy nicht tun soll? Nur Reden verstehen die ja noch gar nicht.“ Ich bin immer noch fassungslos, wenn ich an diese Unterhaltung denke.
Aber zurück zum Prantl-Text. Die Geschichte der Kindheit im Laufe der Jahrhunderte zeigt einen Blick auf das Machtgefüge in den Gesellschaften, auf Hierarchien und Demokratie-Verständnis. Unser Blick auf die Kindheit und das Verständnis von Kindern zeigt aber auch, wie empathisch wir sind, als Privatpersonen – und als Gesellschaft.
„Vielleicht kamen die Ansätze der antiautoritären Erziehung zu sehr aus dem Nachdenken über die als falsch empfundenen Erziehungsmethoden der Eltern und zu wenig aus dem Mitfühlen mit Kindern; und vielleicht ist es heute, beim Ruf nach neuer Autorität in so vielen Erziehungsberatungsbüchern, wieder genauso.“
Ungefähr das ist es, was wir uns immer wieder klar machen müssen: die liebende Sicht auf unsere Kinder, das Mitfühlen und Hineinversetzen in ihre Position. Abstand gewinnen von der eigenen Hetze und Sorgen. Dann wäre eine liebende, aus dem Bauch heraus geführte Erziehung möglich. Dies und die Verankerung des Kinderschutzes im Grundgesetz könnten ein echtes gesellschaftliches Umdenken und neu-Bewerten von Gewalt bewirken.
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Tipps gegen die Wut
1. Eigene Gefühle bewußt machen, Achtsamkeit (mal wieder)
Es ist ein Bewußtseinsprozess, der außerhalb der stressigen Situation stattfindet. Und der meistens über eine eher längere Zeit andauern muss, als ein paar Minuten vor der brenzligen Situation. Es ist wichtig, die eigene Überforderung zu erkennen und zu “akzeptieren”. Das ist ein erster großer Schritt. Hinschauen, erkennen wo die eigene Problematik liegt, darüber sprechen; wenn Zeit ist, sich das Ganze aufschreiben.
2. Know your triggers!
Erkennen, was einen reizt.Absoluter Trigger bei mir ist das Dauerknatschen. Macht! Mich! Wahnsinnig! Es fällt mir ungeheuer schwer, das auszuhalten. Das allein schon zu wissen und den Trigger zu erkennen, sobald es “losgeht”, kann nur von Vorteil sein.
3. Ich bin nicht immer Schuld
Was mir grundsätzlich an schwierigen Tagen hilft, ist die Erkenntnis, dass ich trotz allem nicht Schuld habe, wenn es blöd läuft. Und dass ich mich auch nicht immer angesprochen, betroffen und “in charge” fühlen muss, wenn die Kinder viel streiten, die Launen mies sind und es allgemein nicht so läuft, wie erhofft.
4. Zeit für mich
Unabhängig von einer akuten Konfliktsituation oder nicht: Es hilft, sich bewußt Zeit für sich zu nehmen. Und zwar auch, während die Kinder dabei sind, wenn der Alltag sonst keine Zeit für sich selbst übrig lässt. Man kann das mit seinen Kindern üben: Jeden Tag die Kinder einfach für einige Zeit ins Kinderzimmer zum Spielen bitten, damit man Ruhe für sich hat. Um einen Kaffee zu kochen, Musik zu hören, gar nichts zu tun. Egal. Hauptsache es tut gut. Das habe ich geübt, jetzt es klappt. Und es hilft enorm!
5. Arbeiten gemeinsam verrichten
Auch eine grundsätzliche Sache, die meistens allen Beteiligten Spaß macht: Die Dinge tun, die getan werden müssen, während die Kinder dabei sind. Nicht abends, wenn sie schlafen und ich mir einen gemütlichen Abend machen könnte. Egal ob Wäsche waschen/falten/einräumen, Küche aufräumen, kochen, whatever – die Kinder mitmachen lassen.
Ad-Hoc Hilfe kurz bevor der Puls rast
1. Ausweichmanöver
Wenn die Stimmung mal nicht so ist, wie sie sein sollte, hilft bei mir nur, die Stimmung zu erkennen, bevor der Puls rast. Was ist dann zu tun?
- Rausgehen! Solange das Wetter es zulässt, egal ob Spielplatz, Einkaufen, Brötchen holen.
- Kuchen oder Brot backen. Im Idealfall mit den Kindern. Das mache ich öfter, wenn ich merke, die Kinder spielen heute nicht so schön und das Wetter ist fies.
- Singen!
- Tanzen! Bei meinen knatschenden Kindern bestenfalls zu “Chick Habbit” von April March. Meine Kinder lieben den Song. Und die Tanzeinlagen bei “iuiuiuiuiuiu” sind der Knaller.
- Atmen! Bewußt atmen.
2. Ad Hoc Hilfe Deluxe – Der “Notfallkoffer”
In den Notfallkoffer gehört alles, was einen in brenzligen Situationen gedanklich und emotional herausbringen kann. Vorsicht: Besonderer Schwierigkeitsgrad!
10 Minuten auf den Balkon gehen oder die Kinder ins Kinderzimmer schicken! Wenn das geht, kann man in diesen 10 Minuten das tun, was die Gefühle und Gedanken total rausbringt. 1-2 Heavy Metal Songs auf voller Lautstärke hören (oder welche Musik auch immer), den Lieblingsgedichtband an der frischen Luft auf dem Balkon lesen, Tasse Kaffee trinken, Meditieren, Weinen, Singen, irgendetwas Beklopptes. Egal was es ist, und wie bescheuert es ist, was hilft, hilft.
Und jetzt Ihr:
Habt Ihr noch Tipps zur Kontrolle der Wut? Was fehlt in der Gesellschaft, oder in der Erziehung unserer Kinder, um das Verständnis von Gewalt an Kindern nachhaltig zu verändern – und vorzubeugen? Würde mich wirklich interessieren.
Ein toller und umfangreich recherchierter Artikel, danke dafür! Ich hoffe (und bin mir sicher), dass du ein stückweit zur Aufklärung beitragen kannst.
Danke für den ausführlichen und wichtigen Artikel. Ich hab mir auch was von der Seele schreiben müssen.
http://www.jazzblog.de/jazzlounge/2014/11/es-hat-dir-nicht-geschadet/
Lieber Hannes,
danke für diesen Text. Er hat mich zu Tränen gerührt…. Das ist es. Das Band wird zerschnitten, das Urvertrauen geschädigt. Danke fürs Teilen!
Schön, daß du auch auf die Seite der Eltern in Hilflosigkeit eingehst. Denn alles Wissen nützt nichts, wenn alte Muster aufbrechen aus Erlebnissen der eigenen Kindheit. Danke für die Tipps und die umfangreiche Recherche.
Tolle Sammlung von Tipps, niemand ist perfekt und jeder hat mal einen schlechten Tag. Dann fragt man sich: was soll ich denn jetzt noch tun? Letztes Mittel ist bei mir an schlechten Tagen einen Moment das Zimmer verlassen bis der Puls wieder runter ist.