Wurmlöcher, Knicke im Raum-Zeit-Kontinuum? Eltern kennen das. Oder etwas nur ich?
Damit meine ich nicht die Unzurechenbarkeit bei extremen Schlafmangel, sondern ich meine quasi seelische Wurmlöcher. Mir ist letztes Wochenende klar geworden: Es gibt sie. Ich weiß nicht, wie weit die moderne Physik da ist, aber ich habe eins gesehen – vielmehr erlebt. Ganz deutlich, mitten auf einer Kinder-Karnevalssitzung. Und nein, ich hatte keinerlei Rauschmittel zu mir genommen, es war ja Kinderkarneval!
Das kam so: Die 6jährige Tochter und ich fuhren alleine zum Kinderkarneval, denn Mann und Sohn waren krank. Die Tochter und ich betraten den großen, geschmückten Saal. Party! Die Tochter händigte mir ihre Jacke und Mütze aus und weg war sie. Wir waren spät dran, das Moderatoren-Paar stand schon auf der Bühne und begrüßte die Kinder. Sie wollte nichts verpassen.
Ich suchte den Tisch mit den Freunden, begrüßte alle und packte die Jacken auf einen Stuhl. Ich sah mich kurz nach der Tochter um. Sie stand ziemlich weit vorne vor der Bühne und hörte aufmerksam zu, ihre Körperhaltung verriet Bereitschaft gleich mit dem Hüpfen anzufangen: Ein Lied wurde angekündigt.
Ich verspürte plötzlich diesen irrationalen Drang ihr sagen zu wollen, wo ich war. Wie albern ist das? Wir sind gemeinsam angekommen, sie weiß, ich laufe ihr nicht weg. Ich werde wohl schon in diesem Saal sein! „Aber wenn sie mal Durst hat?“, überlege ich. Oder zur Toilette muß? Oder sich einsam fühlt? Angst bekommt? Zur Mama will? – Ich MUSS ihr sagen, wo sie mich finden kann.
Ich also, wie so ne Erstlingsmutti beim Pekip, pirsche mich an meine 6Jährige heran. Der Moderator sagt gerade, dass bitte ALLE ERWACHSENEN vor der Bühne verschwinden sollen, weil die KINDER sonst nichts sehen!!! Ich_bin_eine_dieser_Erwachsenen! Ich bin eine von denen, die vor der Bühne stehen, in lächerlich gebückter Haltung, Hintern hinten raus. Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Ich tippe meinem Kind auf die Schulter. „Kind, ich bin da hint…“ Eine Hand stößt mich weg. Die Tochter sieht mich kaum an, ihre Hand tippt auf meinen Brustkorb und schubst mich. „Mamaaaa, Erwachsene dürfen hier nicht hin!“, ermahnt sie mich. – „Jaaaaichweiß“, flüstere ich ihr zu. „Ichbindahinten. WennDumichsuchst…..“ Sie guckt kurz. Dieser furztrockene Sarkasmus in ihrem Blick! „Ja klar. Mama.“, sagt ihr Blick. Dann schaut sie wieder nach vorn. Ich laufe in dieser gebückt Haltung, die nur Eltern einnehmen können, an den Rand der Halle und stelle mich neben meine Freundinnen, allesamt umringt von Babys und Kleinkindern. Nur ich nicht. Ich steh da alleine!
Ich komme mir komisch vor. Kein Kind weit und breit, das etwas von mir will. Die Kinderparty tobt. Es ist alles sehr nett gemacht. Die Witze sind süß und kindgerecht, die Clowns sind lustig, die Songs fröhlich. Alle dürfen laut sein, sie dürfen auf die Bühne, sie dürfen rumspringen und auf die Stühle klettern.
Da, das Wurmloch. Ein Knick im Raum-Zeit-Kontinuum. Plötzlich stehe ich in meinem alten Schlafzimmer. Ich sehe mich selbst in meinem Bett dasitzen, mit meinem funkelnagelneuen Kind1-Baby im Arm. Wir sind gerade erst wieder zu Hause angekommen, nach dem Kaiserschnitt im Krankenhaus. Wir drei sind allesamt komplett geschafft und ausgelaugt. Das Baby trinkt schlecht und hat extrem viel abgenommen in den ersten Tagen nach der Geburt. Alles in mir ist auf ALARM gestellt. Noch nicht ganz angekommen in dieser Mutterrolle, kam mir alles erstmal wie ein riesiger Job vor. Das größte, wichtigste, brenzligste und gefährlichste Projekt, das ich je stemmen mußte. Ich funktionierte seit 5 Tagen mit aller Kraft, stelle mir den Wecker zum Stillen, keine Erholung für mich nach der OP. Trotzdem (natürlich gerade deshalb!) läuft die Milch nur spärlich. Babyblues ist eigentlich ein zu harmloses Wort für meine Stimmung. Ich habe ernsthaft Angst, dass etwas schief läuft. Dass das Projekt scheitert, das Baby kaputt geht, verhungert und ich einen schlimmen, welchen-auch-immer, Fehler mache.
Beim Trinken sollte ich das Baby massieren an Füßen und Händen, damit sie nicht einschläft. Meine gedrückte, sorgenumwölkte Stimmung will ich aber nicht auf das Baby übertragen. Instinktiv singe ich dem Baby etwas vor. Aber was nochmal?
Ich stehe in dem Wurmloch und höre mich singen. Aber was sang ich? In der Schwangerschaft hatte ich keine Kinderlieder geübt. Ich kramte in meinem inneren Liedgut. … Das Baby sollte trinken. … Trinken! „Drink doch eeene mit!!!“, singt es aus mir in weicher Lullaby-Stimme heraus. „Du hängs he die janze Zick eröm“, ändere ich den Text etwas ab. Bei „Haste auch keen Jeld, dat is janz ejaal. Drink doch een und kümmer Disch net dröm“, muß ich weinen. Noch etwas Fröhlicheres singen! „Was sollen wir trinken sieben Tage lang, was sollen wir trinken, so ein Durst!“ Tschakka. Ich massiere, singe, das Baby trinkt mit geschlossenen Augen. „Drink, Drink, Babylein drink. Lass doch die Sorgen im Krankenhauuuus….“, radebreche ich weiter. Der Mann lacht leise. Im Anfall von Sarkasmus sangen wir noch „Wir machen durch bis morgen früh und singen Bumsfalleraaa“. Alles in Sing-Sang-Babyliedstimme. Dieses Liedgut sang ich zu mehreren Stillsitzungen, vorallem immer wieder „Drink noch eene met“.
Ich stehe in diesem Wurmloch, auf dieser Kinderkarnevalssitzung und sehe mich an. Wie ich da sitze. Kissen überall und dieses Baby.
Ich stehe in dem Wurmloch und all diese existenzielle Sorgen und die Zartheit meines winzigen Babys sind absolut präsent.
Ich stehe in dem Wurmloch und erinnere mich wieder an den Trost, die Heiterkeit und Zuversicht, die mir die Karnevalslieder, die ich zu Baby-Trinkliedern umtexte, damals gaben.
Ich stehe im Wurmloch und erkenne, dass ich in diesem Moment, als ich das erste „Drink doch eene mit“ anstimmte, zur Mutter geworden bin. Denn ich wollte meine eigene Angst und Verspanntheit vor dem Baby verstecken und ihm Geborgenheit schenken, Heiterkeit und Trost. Ich stehe in dem Wurmloch, mitten auf dieser Kinderkarnevalsparty und stelle amüsiert fest, dass ich damals, passend machte, was so gar nicht passend erschien, nämlich Karnevalssong als Babylieder. Es passte, weil ich in mir kramte und das für die Mutterschaft herausholte, was halt da war. Genau das war perfekt für den Moment. Jetzt. In diesem Wurmloch.
Wer mich kennt, weiß, was Karneval mir bedeutet: Fröhlichkeit in einer freudlosen Jahreszeit, Optimismus im nicht enden wollenden Winter, Freunde, Gemeinschaft und Leichtigkeit, menschliche Wärme und echte, kindliche Freude. Wer mich kennt, versteht, dass es genau die richtigen Songs waren, die ich nach den harten, schrecklichen Krankenhaustagen da sang.
Ich stehe also in diesem Wurmloch und denke: Hätte ich nur einen Augenblick gehabt – damals auf dem Bett, mit dem zarten 2.300 Gramm-Baby im Arm – und hätte durch dieses Wurmloch schauen und diese Kinderkarnevalssitzung sehen können. Hätte ich doch gesehen, wie groß und selbständig das dünne Baby werden würde! Wie selbstverständlich sie sich verkleidet, mittanzt und singt und von ihrer Mama so gar nichts wissen will. Hätte ich doch sehen können: Es wird alles so gut werden. Sie wird groß werden. So unvorstellbar groß! Eines Tages stehst Du am Rand des Geschehens! Du stehst da verwundert, amüsiert, stolz und ein bisschen alleine und siehst Deine Tochter feiern. Dann bist nicht mehr der Nabel ihrer Welt, nicht mehr ihre Nahrung, nicht mehr die gefühlt Einzige, die zuständig ist.
Aber wer weiß? Vielleicht haben die Karnevalslieder mir ja genau dieses Gefühl vermittelt, damals. Denn sie haben mir gut getan. Ich wünschte nur, ich hätte ein bisschen länger als die Dauer des Liedes daran glauben können.
Ich stehe in dem Wurmloch und lege mir ganz zart und ganz warm eine Hand auf den Rücken. Ich schicke meinem stillenden, verzweifelten und unsicheren Selbst all diesen Stolz, die Ironie, den Sinn für’s Absurde und die Zuversicht, die ich nach 6 Jahren habe. Und ich hoffe, dass es nachträglich noch rechtzeitig bei mir ankommt und mir hilft.
Schwuuuups.
Dann geht das Wurmloch zu. Ich stehe wieder auf der lärmenden Party, trinke Apfelschorle und wippe zu Kinderliedern, die ich nicht kenne.
Kann mir noch irgendjemand folgen?
Wie süß!!!
Ich bin noch genau da! In deinem Wurmloch! Kaiserschnitt,2380g! Aber er trinkt! Er trinkt seit 20min nach Geburt wie ein Jeck!! Und dennoch kann ich das Wurmloch so gut nachfühlen! Das können wohl nur Mamas! Egal ob von 6jährigen Girls,5monatigen Räubern oder 25jährigen Studenten! Die Sorge bleibt! Und jedes Lächeln lässt sie für einen Wimpernschlag verfliegen,macht stolz und unfassbar glücklich!!!
Alles Liebe allen Mamas dieser Welt! Haltet durch und seid stolz auf euch und eure Babys,egal wie alt sie sind!
<3
Oh wie schön! Danke für Deinen Kommentar. Es wird alles so gut werden! Ich schicke viel Karnevalsfreude und Zuversicht in Dein Wurmloch und dreenke ene mit! <3
Auch Papas können das. Diese Momente wo alles zu einer Zeit zusammenschrumpft. Geburt, erste Schritte, ein Lächeln, Kindergartentasche alles passiert gleichzeitig und doch ist jeder Moment einzigartig.
Nichts, nichts auf dieser Welt läßt einen den ersten Kontakt vergessen.
❤
Ein schöner, origineller Gedanke, sich selbst quer durch Raum und Zeit über den Rücken zu streichen und Zuversicht zu geben!
Also, ich such dann auch mal in meiner Matrix nach Rissen und klopf meinem alten Erstmutter-Ich auf die hängende Schulter… :-)
Mir gehts übrigens auch ganz ähnlich, wenn Freundinnen von mir jetzt ihr erstes Baby bekommen. Die will ich auch umarmen und möchte ihnen so gern etwas von meinem Glück und meiner Kraft abgeben…
…so schön geschrieben! Danke.
Ohhh, so wahr ! Danke für diese Erinnerung – für das Bewusstmachen.
Mir ging es ähnlich, und vielen der Mamas, mit denen ich arbeite, auch.
Morgenversüßend – danke !!
Was für eine wundervolle Vorstellung, dass wir uns diese Kraft, die wir manchmal unerklärlicher Weise aufbringen, um für unsere Kinder da zu sein, ja, dass wir sie uns selbst geben. Unser wissendes Ich, die innere Ruhe, Gottvertrauen – ein Wurmloch! Toll!
… und ich bin auch genau da. Und die ‚große‘ Tochter mit ihren zweieinhalb Jahren zu sehen, wie groß sie schon ist und wie klug und wie wundervoll, gibt mir die Hoffnung, dass unsere Kleine ein genauso glückliches und wunderschönes Mädchen wird.
Vielen Dank für den tollen, emotionalen Text, der in meinem hormon-verqueren Kopf so schön auf die Tränendrüse gedrückt hat. <3
Auwei, da ist mir gerade kurz was ins Auge geflogen…
Ävver im hätz bliev et e Baby.
Oh ja, egal wie groß sie sind, irgendwie hat man immer wieder das Baby im Arm.
Das ist einfach in vieler Hinsicht eine so intensive Zeit.
Danke für diesen tollen Text.
LG Nina
„Wenn ich gewusst hätte ..“ dass sind auch immer meine Gedanken, wenn meine bald 10jährige Tochter, mir jeden Tag mehr und mehr zeigt, dass sie gross geworden ist ♡
Ein toller Text!
Toller Beitrag :)
Ich kenne diese Wumrlöcher auch ;)
Also wirklich ganz toller Text. Da kan jede Mutter nur mitfühlen. Sie werden so schnell erwachsen … Da kommt das Mutterherz gar nicht hinterher.
LG Anke
Wunderschön. Ich werde diesen Text bookmarken, ausdrucken, an die Wand hängen und immer wieder lesen. Schon allein, weil ich gerade die ganze Zeit was im Auge hatte. .)))
Ein schöner und berührender Text, in dem ich sich viele Mütter wieder finden können. Ich inklusive.
Tränen rinnen mir die Wangen runter und ein dicker Kloß ist im Hals. Mein Wochenbett auch nach KS war so ähnlich. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass ich eines Tages nicht mehr so komplett mit Haut und Haaren gefordert sein werde und plötzlich ist es so weit und man kann sich zurückerinnern.
Wunderschöner Text, der mich allerdings gar nicht an ein eigenes „Wurmloch“ erinnert, sondern an eine Begebenheit mit einer schwangeren Freundin, als meine mittlere noch ein Baby war. Sie war noch ziemlich frisch das zweite Mal schwanger – wusste sie da schon, dass es Zwillinge sind? – und sie war zutiefst verunsichert, weil die Ultraschallergebnisse allesamt sehr schwammig waren. Und da erzählte ich ihr, dass mein mittleres Kind, dass da gesund und robust vor uns lag und fröhlich gluckste, bei den ersten Ultraschalluntersuchungen so klein war oder sich so sehr in die Ecken drückte, dass es einfach nicht wirklich zu finden war. Und es hat die Freundin so beruhigt zu hören, dass auch dieses große Kind einfach mal bei Untersuchungen wegtaucht war, dass sie, zumindest für den Moment, gleich wieder viel ruhiger und fröhlicher wurde.
Das hatte ich schon wieder völlig vergessen, bis mir diese Situation vor einiger Zeit wieder ganz plötzlich ganz deutlich vor Augen stand. Lustigerweise musste ich mich auch wirklich an das Erlebnis mit der Freundin erinnern, um mich überhaupt daran zu erinnern, dass mein unglaublich gefühlsstarkes, aufbrausendes, in jeder Situation präsentes, laut und selbstbewusst auftretendes Kind wirklich eine Weile brauchte, bis es sich uns zeigen wollte … Keine Ahnung, was der Anlass für diese Erinnerung war. Daher eben kein wirkliches Wurmloch, aber eben eine für mich sehr wertvolle Erinnerung.