Im Sommer gibt es Gastbeiträge bei Mama notes. Ich habe Leser*innen und Bloger*nnen um ihre Textbeiträge gebeten und freue mich auf die Vielseitigkeit an Erlebnissen und Gedanken, die da kommen werden.
Den Anfang macht Nicole. Atmet noch einmal tief durch, denn Nicole hat ein schweres und trauriges Thema im Gepäck. Nicole erzählt von einem Schicksalsschlag, denn sie hat vor einem Jahr ihren Mann und Vater ihrer Tochter gehen lassen müssen. Wie es ihr damit heute geht, womit sie kämpft, täglich und immer wieder, hat sie in diesem Text veröffentlicht. Liebe Nicole, danke für Deine Offenheit, für Deine Ehrlichkeit, letztendlich auch für den sarkastischen Humor. Möge er Dich beim eigenen Schopfe aus diesem Tief herausholen. <3
Nicole stellt sich vor: Ich bin Nicole Schenderlein und stamme aus dem Ruhrpott. Ich schreibe gerne Tacheles. Zurzeit ist die Wahrheit bitter. Aber mein Foto zeigt, dass ich mich trotz Magensäure nicht wegätzen lasse. Mehr Hoffnung folgt bald auf www.green-woman.de und jetzt schon bei Facebook: www.facebook.com/LuetteLockesLandhuus.
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Vier Uhr nachts. Bin wach. Wegen dem Zuckerbrot. Da darf man auch mal auf das Genetiv verzichten, wenn sonst nur Bäcker, Taxifahrer und Prostituierte wach sind. „Auf den Genitiv verzichten, heißt das. Und wegen des Zuckerbrots kannst du nicht schlafen.“ Die Autokorrektur im Gehirn arbeitet bei mir sogar, wenn ansonsten in meinem Körper Schicht im Schacht ist. Eine Gastritis sorgt dafür, dass ich zurzeit ständig vom Husten wach werde, weil die Magensäure das unverdaute Essen nach oben in den Hals schiebt.
Das würde nicht passieren, wenn ich mit hochgelagertem Oberkörper im Bett liegen würde, aber im Sitzen konnte ich noch nie gut schlafen. Ich erinnere mich noch an längere Busfahrten anno dazumal nach Schweden, London oder Spanien. Irgendwann schnarchen sie alle, nur ich bin am Ende der Fahrt geräderter als die Spurrillen der ausgebeulten Straße. Hätte ich damals gewusst, was ein Zuckerbrot heute mit mir macht, hätte ich nicht so rumgejammert wegen der paar verpassten Stunden Schlaf und die Welt um mich herum bewusster genossen.
Doch hätte, könnte, würde, sollte ist und war schon immer kein guter Lebensbegleiter. Der Konjunktiv darf von anderen benutzt werden, ich versuche im Hier und Jetzt zu bleiben. Was nicht einfach ist, wenn die Gegenwart so gut wie nichts mehr enthält, was man jahrelang kannte. Noch knapp eine Woche und dann ist es ein Jahr her, dass der Vater meiner Tochter uns verlassen hat. Der Klassiker: Nur mal eben weggefahren und nicht wiedergekommen. Allerdings nicht zum Zigarettenholen – was nicht daran liegt, dass heute kaum noch jemand raucht – sondern zum Sterben. Vor einem Jahr hat mein damaliger Mann Suicid begangen.
Ich schreibe „damaliger Mann“, weil er nicht mehr mein Mann ist. Weil es heißt: „Bis dass der Tod euch scheidet.“ Meine Tochter, ich nenne sie Lütte Locke, sagt „Papa Markus“ zu ihm. Vorgestern saß sie auf dem Schoß ihrer Oma, sang ein selbst gedichtetes Lied und unter anderem kam darin vor: „Unser Papa Markus ist gestorben, la la la.“ Sie ist dabei nicht mehr traurig, das ist einfach Realität. Sie könnte auch singen: „Die Sonne scheint, la la la.“
Diese Realität dauert jetzt schon ein Jahr an, aber ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt. Was hauptsächlich daran liegt, dass es keinen Alltag gibt. Dass dieses Leben in Extremen einfach nicht aufhört. Seit zwölf Monaten versuche ich, wenigstens Bruchstücke aus unserem alten Leben zu erhalten. Oder irgendeine Art von Sicherheit. Sieben Monate hat es gedauert, bis ich unsere Rentenbescheide bekommen habe. Erst danach konnte ich aufatmen. Zumindest einmal. Denn jetzt geht es darum, unser Haus zu sanieren, damit ich die laufenden Kosten senken kann. Nur so können wir hier wohnen bleiben.
Gestern kam überraschend die Baugenehmigung. Damit hatte ich schon gar nicht mehr gerechnet. Ich musste einen Antrag stellen, weil das Haus in zwei Wohnbereiche aufgeteilt wird. Mit der Vermietung der einen Hälfte des Hauses kann ich dann (hoffentlich) die Sanierungskosten wieder refinanzieren. Die skurrile Geschichte, warum sich wegen eines Schlosses, das fast zwei Kilometer weiter im Dorf hinter einem kleinen Wald steht, der Behördenkram wegen des Baus um zwei Monate verzögert hat, erzähle ich vielleicht an anderer Stelle. Geschichten wie diese gab es viele, seitdem Markus tot ist.
Ich war erleichtert, postete ein „Jippijajey, Schweinebacke“ bei Facebook und freute mich. Bis heute Mittag neue Post kam.
Ein Brief enthielt die Aufforderung einer Zusatzversicherung, dass die Rentenbescheide wieder neu geprüft werden müssen. Also wieder alle Dokumente raussuchen, kopieren, einschicken, warten. Wahrscheinlich muss ich die Leistungen für ein ganzes Jahr zurückzahlen. Weil Witwen und Waisen nur einen bestimmen Betrag bekommen dürfen. Es gibt Grenzen. Auch wenn die Verstorbenen zu ihren Lebenszeiten in drei Kassen eingezahlt haben. So will es das Sozialgesetz. Gleichheit für alle. Alle Witwen und Waisen sollen gleich arm sein.
Ein anderer Brief enthielt die Aufforderung zur Selbstbeteiligung wegen eines Rechtsstreits, den ich mit einem Möbelhaus, das Elche verkauft, führen musste. Bis Markus weggefahren und nicht wiedergekommen ist, fühlte ich mich dort immer wie auf Kurzurlaub mit Köttbullar und Co, aber seitdem die damit verbundene Kreditanstalt eine Restschuldversicherung nur mit Mühe eines ambitionierten Rechtsanwaltes akzeptiert hat, wohne ich nur noch statt zu leben.
Mit dem Leben ist das nämlich gar nicht so einfach. Der letzte Brief enthielt eine Mahnung des pinken Kommunikationsanbieters – über einen Monat, in dem ich weder Telefon noch Internet hatte. Mit den Mitarbeitern dieses konfusen Unternehmens bin ich mittlerweile per du; ich habe letzten Monat mehr Zeit an der Strippe mit ihnen verbracht als mit meiner Tochter zu spielen.
Ich würde gerne wieder richtig leben. Mit Lütte Locke selbstvergessen toben, ohne im Hinterkopf die To-Do-Listen abzuarbeiten. Dabei arbeite ich offiziell gar nicht. Ich hätte wegen der vielen Dinge, für die ich jeden Tag Lösungen finden muss, auch gar keine Zeit dafür. Krankgeschrieben bin ich aber nicht deswegen, sondern weil ich eigentlich schon seit Beginn dieses Jahres nicht mehr kann. Doch ich muss.
Ich weiß, das ist kacke, das zu lesen. Niemand will ständig vollgejammert werden. Ich will das auch nicht. Aber vielleicht sollte ich. Zumindest ist mein Magen dieser Meinung. Er ist sauer. Er hält dem Druck nicht mehr stand. Er muss sich Luft machen, die schwer verdauliche Kost an die Oberfläche kommen lassen, alles einmal schonungslos auskotzen. Denn wer kotzen muss, hat keine Zeit, sich um den perfekten Sitz der Wimperntusche zu kümmern. Scheiß drauf, wie du dabei aussiehst, Hauptsache es ist alles raus, dann geht’s dir besser. Sagt man.
Meine Magenschleimhaut hat recht, dass sie so dünnhäutig ist. Ich bin wütend. Und müde, so müde. Weil ich ständig Grenzüberschreitungen erlebe und mich mühsam zurückkämpfen muss. Ob ich will oder nicht. Ich muss aufräumen, was mein persönlicher schwarzer Block kaputtmacht. Ich mag ihn nicht, aber er ist da. Zusammen mit der Trauer. Sie bricht in Wellen über mich hinein und erwischt mich in den unmöglichsten Momenten. Und jedes Mal ist sie anders. Sie ist unberechenbar.
Besonders jetzt, wo alles ein Jahr her ist. Allein die Jahreszeit, die Pflanzen in unserem Garten, erinnern mich an die letzten Tage mit Markus. Ausgerechnet die volle blühende Pracht des Sommers, die lauen Abende, der Geruch des frisch gedroschenen Korns. All das bleibt verbunden mit diesem Schockmoment und der grauenvollen ersten Zeit danach.
Einige kennen vielleicht dieses Phänomen, dass man nach einem Albtraum wach wird und die Emotionen davon einen noch den Tag über begleiten. Bei mir bleibt dieses Empfinden unterschwellig seit über dreihundert Tagen präsent. Dieses Gefühl des persönlichen Weltuntergangs. Als mit einem Schlag alles weg war: Der beste Freund, der Ehemann, der Vater meines Kindes, der Arbeitskollege, mein Job, mein Lebensstandard, das Auto, das Geld auf dem Konto. Es war gruselig. Wie in einem Horrorfilm. Nur dass es mein Leben war. Und ist.
Das macht mich alles so müde. Wenn ich mich ins Bett lege und mich niemand weckt, schlafe ich tagsüber fünf Stunden am Stück. Auch mit Magensäure und Husten im Hals. Ich bin im wahrsten Sinne ausgeschöpft. Da ist nicht mehr viel. Lebensmüde bin ich aber nicht. Denn genau das möchte ich wieder: Leben. Das ist mein Ziel. Dafür gebe ich nicht auf.
Zwischendurch mache ich das, Leben. Spazierengehen, Cafebesuche, mich mit Freunden treffen, mir eine Massage gönnen. Doch es fühlt sich nicht echt an, eher wie „so tun als ob“. Denn bei all dem läuft mein Alarmmodus im Hinterkopf weiter. Weil immer noch Ausnahmezustand ist, das Leben noch nicht sicher ist.
Meine Therapeutin hält mich immer wieder dazu an, dass ich mich entspannen und langsamer machen soll. Wenn ich das höre, kommt mir gleich wieder die Galle hoch. Genauso wenn ich dieses Lied höre: „Tür auf und raus und (mach) blau.“ Als ob das so einfach wäre. Als ob man sich das nur trauen müsste. Blaumachen. Aus dem Krisengebiet ausreisen. Und dann? Wer kümmert sich darum, dass die Rechnungen bezahlt werden? Dass ich hier nicht hochverschuldet ausziehen muss? Um meine Tochter?
Ich weiß, dass ich mich auch um mich kümmern muss, weil sonst niemand mehr da ist, der das Rad am Laufen hält. Ich weiß das sehr wohl. Und ich mache das auch. Ich plane mir Auszeiten ein. Auch ohne meine Tochter, damit ich danach wenigstens wieder etwas mehr Energie für sie übrig habe. Sie hat schon ihren Vater verloren, sie soll nicht mit einem Mutter-Zombie leben müssen. Ich tue, was ich kann. Aber es reicht nicht.
Neben mir stehen meine Geburtstagsgeschenke. Auch das ist etwas, was in diesem Monat passiert ist. Ich soll feiern, dass es mich gibt. Doch was oder wer ist von diesem Ich noch übrig? Ich bekomme auffällig viele Pflegeprodukte und Genussmittel. Damit ich mir was Gutes tue. Gerne würde ich jetzt mitten in der Nacht etwas von der Schokolade essen. Denn ich habe Hunger. Und Schoki war schon immer mein persönlicher Schnelltransporter für Glücksmomente.
Blöd nur, dass mein Magen das dann wieder nach oben schiebt, sobald ich im Bett liege. Also keine Schoki, kein Wein, keinen Kaffee. Der macht das gerade auch nicht besser, mein Bauch. Obwohl ich mich eigentlich seit Markus´ Tod gut auf mein Bauchgefühl verlassen konnte. Eigentlich auch jetzt. Denn es sagt mir, dass ich aussteigen muss aus diesem Hamsterrad, dass ich eine richtige Pause brauche, nicht nur ein heißes Bad, eine Gesichtsmaske und eine Haarpackung.
Obwohl ich höchst effizient lösungsorientiert bin, weiß ich nicht, wie das gehen soll: Pause machen und Leben retten gleichzeitig. Wie soll ein Sanitäter im Rettungswagen dem Patienten mit akutem Herzinfarkt helfen und gleichzeitig schlafen? In diesem Fall ist es gut, dass ich nicht im Sitzen schlafen kann. Denn für mich wird kein Rettungswagen vorfahren. Was mir wirklich guttun würde, kann mir niemand so schnell schenken: Sicherheit. Es ist zumindest höchst unwahrscheinlich, dass plötzlich jemand einen Koffer mit hunderttausend Euro bei mir vor der Tür abstellt, damit ich das Haus sanieren kann.
Jetzt könnte man das ganze Projekt infrage stellen und sagen: Verkauf das Haus einfach, zieh weg, fang von vorne an. Ist nicht neu, der Gedanke. Ist aber nicht realistisch, weil noch teurer. Und mindestens genauso aufwendig und stressig.
Außerdem würde ich Lütte Locke ihre letzten zwei Sicherheiten nehmen: Ihr Zuhause und ihren Kindergarten, der vor allem wegen ihrer wunderbaren Gruppenerzieherinnen ihre zweite Heimat geworden ist. Dafür mache ich weiter. Und auch für mich. Denn ich liebe mein Zuhause, die alten Bäume, den Wildwuchs. Ich lebe hier länger als an jedem anderen Ort zuvor. Ich habe hier Freunde. Ich bin hier verwurzelt. Auch deshalb bleiben wir hier.
Neben all dem Scheiß gibt es ja auch sehr viele schöne Momente, Begegnungen, Erlebnisse, die mich oft vor Rührung zum Weinen bringen. Fremde Menschen unterstützen mich, schicken mir kleine Aufmerksamkeiten, fragen nach, denken mit, werden zu neuen Freunden. Das gleicht den Stress wieder aus. Leider meldet sich mein Magen aber auch nach positiven Erlebnissen wie nach einem Zuckerbrot, weil das alles einfach schwer zu verarbeiten, zu viel zum verdauen ist. Was ich seit einem Jahr erlebe, ist zu viel für einen Menschen.
Dabei bin ich damit gar nicht alleine. Nach Herz-Kreislauferkrankungen und Unfällen ist Suicid eine der Haupttodesarten. Redet nur kaum jemand drüber. Wie auch? Es fehlt die Zeit oder man wird sprachlos. Viele Hinterbliebene werden selber Suicid gefährdet, aus den oben genannten Gründen. Unter anderem. Womit Hinterbliebene von Suicid-Opfern sich noch emotional herumschlagen müssen, würde hier den Rahmen sprengen.
Ich sprenge ohnehin schon den Rahmen für einen „normalen“ Blog. Man könnte das aber auch anders sehen: Im Grunde ist das nur der übliche Gehirnbrei einer übernächtigten Mutter, die versucht, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Schlafmangel, nächtliche Hungerattacken, Grübeleien. Wie früher. Manches bleibt auch, wenn der Mann entscheidet, nicht mehr leben zu wollen. Das ist doch auch ein wenig tröstlich. Und das Schreiben bleibt.
Mit dieser Erkenntnis lege ich mich jetzt mal wieder hin, bevor Lütte Locke mich in einer Stunde weckt. Obwohl ich nochmal darüber nachdenken muss, ob dieser Satz da am Anfang nicht doch besser formuliert werden könnte. Das ist doch irgendwie diskriminierend mit den Bäckern, Taxifahrern und Prostituierten. Notiz von der Autokorrektur: „Du hast bei der Aufzählung die Freier vergessen. Und die Mitarbeiter von dem pinken Kommunikationsunternehmen.“ Auch wieder wahr. In diesem Sinne: Schlaft besser.
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Wer auch Lust hat, einen Gastbeitrag auf Mama notes zu veröffentlichen, kann sich ganz einfach bei mir melden. Ich freue mich auf Euch!
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Oh man. Das Leben ist echt so hart zu manchen Menschen…. Ich wünsche dieser bewundernswert starken Mama ganz viel Glücksfeenstaub für die Zukunft. Sachen, die zum Kotzen sind, hat sie wirklich genug erlebt:-(
Danke für diese sehr tiefen Einblicke, ich drücke alle Daumen, dass der Magen seinen Groll schnellstmöglich aufhört zu verkünden.
Eine Herzöge Umarmung und ganz viel Kraft!
Mira
Ich kenne das gut, bei mir waren es andere Ursachen, aber das Gefühl „so tun als ob“, den permanenten Ausnahmezustand und immer wieder noch eins drauf und einfach weiter machen, eins nach dem anderen abarbeiten und den Gedanken im Hinterkopf „Was wird mit Deinem Kind, wenn Du zusammenbrichst?“
Halt durch, es wird besser, ganz langsam zwar, aber es wird. Kleine Schritte, einen nach dem anderen. Ich bete für Dich.