Anfang Oktober wurde die neueste Bildungsstudie (IQB Bildungstrend 2016) veröffentlicht. Basisaussage: „Grundschüler fallen zurück„. Wie ist diese Studie zu bewerten und was bedeutet sie für unsere Kinder und uns Eltern?
Der IQB-Bildungstrend 2016 in der Primarstufe war die Grundlage für eine breite Berichterstattung. Auf eine der immer wiederkehrenden Erklärungen, die Klassen seinen aufgrund der hohen Zuwanderungszahlen überfordert, wollte ich mich nicht allein verlassen. Und selbst wenn: was machen wir nun? Wie können wir den Kindern das Lernen für alle ermöglichen?
Ich habe mich mit einer Lehrerin unterhalten. Hier auf dem Blog möchte sie gerne anonym bleiben. Das finde ich in Ordnung, es geht hier um ihre Meinung und Analyse, nicht um ihre Person.
Wie beurteilst Du die Ergebnisse der neuesten Bildungsstudie?
Besonders überraschend finde ich sie, ehrlich gesagt, nicht. Unser Schulsystem und die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen driften immer weiter aneinander vorbei. Der festgestellte Leistungsstand der Kinder wäre durchaus ein logisches Resultat einer Entwicklung, die sich bereits seit Jahren völlig vorhersehbar angezeichnet hat.
Als Hauptfaktor werden hier in vielen Medien die wachsende Zahl an Zuwanderern und Kindern mit Migrationshintergrund genannt. Wie siehst Du das?
Solche Ergebnisse bauen Druck auf. Schnell müssen Schuldige gefunden und plausible Gründe genannt werden. Die Medienberichte stürzten sich in diesem Fall vor allem auf den gestiegenen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund. Überall wurde lediglich von den gesellschaftlichen Veränderungen gesprochen. Von herausfordernden Klassenzusammensetzungen. Und von „modernen“ Elternhäusern. Eine vorschnelle, unreflektierte und viel zu einseitige Interpretation des vorliegenden Problems. Die Ursachen sind weitaus verzweigter und vielschichtiger. Das Auflösen der Zusammenhänge ist komplex und würde den Rahmen dieses Interviews mit Sicherheit sprengen.
Ja, unsere Gesellschaft verändert sich stetig. Hat sie immer. Wird sie immer. Allerdings vermutlich in rasanterem Tempo. Darauf ebenso schnell zu reagieren ist eine große Herausforderung für ein bequemes und träges Geflecht wie unser Schulsystem. Sicherlich soll es nicht auf jeden Trend antworten, aber Vieles hat sich langfristig abgezeichnet.
Die Individualität der Familienkonstellationen, die veränderte Elternschaft, das Inklusionsbestreben, kulturelle Vielfältigkeit, Mehrsprachigkeit – alles Bereiche, deren Wandlung und Wachstum nicht erst gestern begann. Und, um es deutlich zu sagen, ich finde unmöglich, in welches Licht diese Veränderungen getaucht werden. Die „überbesorgten“ Eltern, die „ungehorsame Tyrannen“ heranziehen, die vielen Kinder mit schlechten Sprachkenntnissen,“die die Unterrichtsqualität drücken“, die Inklusionskinder, „die doch an Förderschulen wahrlich besser aufgehoben wären.“ Ja, diese Veränderungen sind da. Ja, Eltern haben mehr Interesse am Bildungsalltag ihrer Kinder. Ja, unsere Bevölkerung wird vielfältiger. Ja, Inklusion ist ein grundlegendes Recht. Aber nichts davon ist negativ. Es ist eine Herausforderung. Eine große Aufgabe. Das will ich nicht bestreiten. Eine Aufgabe, die ich aber keinesfalls lösen kann, indem ich hier die Schuld ablade und vorschnell verurteile. Nein, liebes Schulsystem. Das ist die Welt, in der wir leben. Das ist unsere Zeit. So sieht sie aus. Und sie birgt nicht nur Probleme und Schwierigkeiten. Sie bietet Chancen. Aber nicht, wenn ich die Augen verschließe. Nichts wurde je durch Abschieben von Verantwortung und durch Aussitzen besser. Wir Lehrkräfte sehen uns dieser Gesellschaft gegenüber. Stehen vor diesen Klassen. Mit dieser Individualität. Und sie ist nichts Schlechtes. Aber gut mit ihr umzugehen wird uns täglich erschwert. Und treibt viele Lehrkräfte an den Rand ihrer Belastungsgrenzen und darüber hinaus.
- Viele Schulen leiden unter extremem Lehrermangel. Viele Klassen durchleben häufige Wechsel und fehlende Sicherheit. KollegInnen versuchen aufzufangen, wo sie können und bringen sich immer wieder über ihre Grenzen. Wir haben keine Unterstützung an der Seite. Inklusionhelfer und Schulbegleitungen werden dringend gebraucht. Sprachlernklassen sind in der Theorie eine tolle Sache, doch scheitern oft an fehlendem Personal. An unserer Schule konnte für 3 Jahre kein Förderunterricht angeboten werden, weil wir mit der personellen Aufstellung noch nicht mal unseren Pflichtunterricht abdecken konnten.
- Die Lehrpläne sind nach wie vor überladen. Ich kenne eigentlich keine Lehrkraft, die ihren vorgeschriebenen Stoff zum Ende des Schuljahres komplett durcharbeiten konnte. Wir hetzen. Kommen eventuell gerade so durch. Aber für nichts ist wirklich Zeit. Und Dinge wie Lesen, Literaturerfahrungen, Texte schreiben, Rechtschreibung, die Umwelt erforschen, mathematische Probleme lösen. Das braucht einfach Zeit.
- Der Bereich Rechtschreibung ist in den letzten Jahren einfach in den Hintergrund gerückt und findet im direkten Schreiblernprozess immer weniger Beachtung. Rechtschreibunterricht lässt sich im Übrigen durchaus spannend und selbstentdeckend gestalten. Aber auch das braucht Unterrichtszeit und zeitliche Kapazitäten in der Vorbereitung.
- Der Personalmangel führt nicht selten zu ungünstigen Klassengrößen. Die individuelle Förderung und individuelles Fordern werden so deutlich erschwert.
- Lehrkräfte ersticken immer mehr in bürokratischen Aufgaben: Zeit, die ihnen für ihr Kerngeschäft fehlt – die Arbeit, das Lernen mit den Kindern. So musste an unserer Schule von uns ein Schreiben für die Eltern entwickelt werden, in dem sie über Hygienestandards beim Zubereiten von Geburtstagsmitbringseln (Muffins etc.) informiert wurden. Anschließend mussten alle Eltern selbiges Infoblatt unterschreiben und versichern, sich an diese Standards zu halten. Dieses Schreiben musste dann wiederum von uns gelistet und archiviert werden. Allein diese Aufgabe hat uns sicherlich 2-3 Stunden wertvolle Arbeitszeit gekostet.
- Und schließlich sagen solche Studien nicht aus, ob es sich in diesem Fall einfach um einen nicht ganz so leistungsstarken Jahrgang handelt. Solche Schwankungen erlebe ich in der Schule auch immer wieder.
Die Gründe für Leistungsergebnisse lassen sich schließlich in ihrer Gänze kaum fassen, auch die gelisteten Punkte werden einer Erklärung nicht gerecht. Sie sollen nur zeigen, dass die Begründung „steigende Zahl an Migrationskindern“ keinesfalls ausreichend sein kann. Vor allem nicht, wenn dabei dramatische Bedingungen, wie der akute und bedrohliche Lehrermangel außer Acht gelassen werden.
Was muss Deiner Meinung nach passieren?
Die eben genannten Aspekte machen es eigentlich klar.
- An erster Stelle bedarf es einer drastischen Aufstockung des Personals. Inklusion und Teilnahme sind wunderbare Rechte und ich war schon immer klarer Befürworter, aber sie brauchen qualifizierte Kräfte, die dabei unterstützen. Ein Lehrer oder eine Lehrerin allein kann das kaum gewährleisten.
- Außerdem braucht es Personal für Modelle wie Sprachlernklassen oder -gruppen, die Kinder, die mit der deutschen Sprache noch Schwierigkeiten haben, auffangen und gleichzeitig schnelle und gut begleitete Integration ermöglichen.
- Es braucht ausreichend Personal (und gute räumliche Bedingungen), um die Klassengrößen zu reduzieren.
- Es braucht eine wirkliche Entrümpelung der Lehrpläne, um Zeit geben zu können. Auch Zeit für guten Rechtschreibunterricht. Im Übrigen empfinde ich die sechsjährige Grundschule (siehe Brandenburg) dabei als eine nicht zu verachtende Möglichkeit.
- Es braucht mehr Freiheiten, mehr Vertrauen in die Fachexpertise von Lehrkräften. Mehr Freiraum eventuell sehr individuelle Wege zu gehen, um der Individualität seiner SchülerInnen angemessen begegnen zu können. Sei es in der Bewertung, in den Methoden, in der Aufgabenfülle, in der Arbeitsweise, in den Lernwegen.
- Es braucht Wertschätzung. Egal ob Lehrkraft oder Krankenschwester, ob Ingeneurin oder Reinigungskraft. Anerkennung wirkt sich positiv auf Arbeitsqualität und damit auch auf ihre Ergebnisse aus.
- Ich versuche in viele Richtungen zu blicken. Nicht nur fordern, sondern auch darauf schauen, wo unser Anteil liegen könnte. Und von unserer Seite braucht es Lehrkräfte, die diesen Beruf von Herzen wollen. Die ihn nicht nur gewählt haben, weil er sicher ist. Oder womöglich gut vereinbar. Das mögen eventuelle Aspekte sein, aber sie dürfen nicht die treibende Entscheidungskraft bei der Berufswahl sein. Dieser Beruf braucht Menschen mit Gespür und Leidenschaft. Mit Motivation und Engagement. Und diese Menschen gilt es dann, bei ihrer Berufung, ihrer Profession zu unterstützen. Um sie zu halten und ihre Arbeitsmoral zu wahren.
Im Übrigen war ich schon an Brennpunktschulen. Ich hatte einen Migrationsanteil von über 85% in der Klasse. An einer Schule, die seit jeher darauf eingestellt ist. Der Zusammenhalt der Lehrkräfte war toll. Die Schulleitung eine Granate. Sie hatte auf eigene Faust Unterstützung in die Wege geleitet, als von den Behörden nichts kam. Nachbarschaftshilfe, Lesepaten, StudentInnen. Sie alle haben uns zur Seite gestanden. Es war ein tolles Arbeiten. Mit guten Ergebnissen.
Ich habe auch schon 2 Inklusionsklassen geleitet. Solche mit trotzdem hoher Schülerzahl. Solche mit Flüchtlingskindern, die gleichzeitig betreut werden mussten. Eine Klasse mit einem als „nicht beschulbar“ eingestuften, hochaggressivem Kind. Ich bekam eine ständige und gut ausgebildete Schulbegleitung an die Seite. Das Kind fand so, vor allem mit Hilfe dieser wunderbaren Frau, in die Klasse hinein und bekam eine echte Chance.
Ich möchte damit sagen, dass viel möglich ist. Mit ausreichend Personal und Unterstützung. Bittedanke.
Was denkt Ihr zur Bildungsstudie? Und welche Veränderungen seht Ihr als besonders notwendig an?
An Schulen allgemein und Grundschulen im Besonderen liegt wirklich vieles im Argen. Ich bin selbst keine Lehrerin und kriege nur die Berichte mit, Beiträge von Bloggern und was bei uns in der Grundschule passiert, aber ich kann das hier Gesagte nur unterschreiben!
Ganz besonders hat mich schon damals bei der Umstellung von 13 auf 12 Jahre Schulzeit geärgert, dass nicht der Lehrstoff des 11. Schuljahres umverteilt wurde (der sowieso nicht allzuviel Stoff enthält, da so viele Schüler dann ein Austauschjahr machen), sondern des 10. Schuljahres. Und so gut wie nichts gestrichen wurde, sondern stattdessen Fünftklässler bis drei Uhr nachmittags Unterricht haben, wo die Lehrer selber sagen „Alles, was ich nach dem Mittagessen mit den Schülern mache, kommt nicht an, die sind dann fertig.“ Das ist doch sinnlos!
Kann ich als Lehrerin alles genau so unterschreiben.
Die meisten Reformen, die ich in den letzten Jahren miterlebt habe, gehen leider genau in die falsche Richtung: Mehr Kontrolle statt mehr Freiraum, weniger Personal statt mehr, mehr Standardisierung statt Individualität, und ja: VIEL, VIEL mehr Bürokratie. Dafür immer neue Förderprogramme, die vom eigentlichen Unterrichten ablenken und zu viel Zeit kosten. Man will zu viel und macht nichts davon konsequent. Man will so alternativ wie die Skandinavier sein und gleichzeitig so leistungsorientiert wie die Chinesen. Man will alles ganz neu denken und gleichzeitig alles beim Alten belassen.
Es braucht Mut für neue Wege, abseits von kurzfristigem politischem Machtkalkül.