Ist das Pinkel-Panne oder schon Eltern-Bashing? Eine Mutter hat ihr Kind an einen Baum pinkeln lassen; Sarah Kuttner und das Internet empören sich und die dpa bittet mich um ein Interview dazu. Hier schreibe ich nun auf, was ich der dpa-Journalistin sagte und was ich anstatt des winzigen Satzes in der dpa-Meldung lieber gelesen hätte.
Ob ich etwas zu den krassen Beleidigungen im Internet sagen möchte und ob ich auch eine Meinung zu Sarah Kuttners Tweet hätte, fragte mich die freundliche Dame am Telefon. Ich war gerade mit meinen Kindern Eis essen und saß mit ihnen und anderen Eltern auf dem Platz davor herum. Ich drehte mich etwas von der Meute weg und gab der dpa ein spontanes Interview zum Thema Eltern-Bashing, Kindern in der Öffentlichkeit und was die Gesellschaft Kinder eigentlich geben sollte. All das inmitten von verschmierten, lauten, herumhüpfenden Kindern. Das nur mal so zur Hintergrundinformation, ich fand es ganz lustig.
Den Tweet von Frau Kuttner kannte ich nicht, hatte durch Einschulung und Kindergeburtstagsfeier in den letzten Tagen nicht viel mitbekommen und ließ ihn mir und die Beleidigungen auf Facebook vorlesen. Das war das, was man so kennt, wenn man sich mit Eltern-Themen schon länger im Netz bewegt: unterste Schublade von Beleidigungen auf allen Seiten und Fäkalsprache in den Kommentaren, provokanter Ton und Ablehnung bei Frau Kuttner.
Was ich der dpa in unserem Gespräch auf ihre Fragen gesagt habe
Die Fragen der Journalistin waren, was ich vom Tweet hielte, wie ich solche Kommentaren finde und ob ich sonst noch eine Meinung zum Thema hätte. Wir kamen ins Gespräch und sie fragte immer mehr. Daraufhin habe ich immer mehr geantwortet. Was ich sagte, war ungefähr das:
Also eigentlich nehme ich solche Tweets gar nicht ernst. Erstens war ich nicht dabei, zweitens hat Frau Kuttner schon öfter gesagt, dass sie Kinder nicht mag und das darf sie von mir aus auch und drittens – gähn. Aber wenn ich nach meiner Meinung schon so nett gefragt werde, habe ich auch eine.
Ich war ja nicht dabei und weiß nichts darüber, ob ich Frau Kuttner in diesem Fall recht geben würde oder nicht. Ein Baum unweit von Cafétischen ist denkbar ungeeignet zum Pinkeln, da würde ich Frau Kuttner inhaltlich recht geben. Übrigens auch ungeeignet für Hunde oder Besoffene, das nur mal am Rande. Aber wer weiß, wie und wo es war? Vielleicht war die Entfernung auch ok und im Notfall mal zu akzeptieren.
Und hier kommt etwas, das mir sehr wichtig ist zu sagen:
Egal ob kinderlos, ob junge Eltern oder Nicht-Eltern: viele Menschen wissen heutzutage gar nicht mehr, welche Bedürfnisse Kinder haben. Und sie wissen anscheinend auch nicht, wie anstrengend und umfassend das Leben mit Kindern sein kann und haben dementsprechend wenig bis keine Anerkennung für die Erziehungsarbeit der Eltern. Es ist nunmal so, dass kleine Kinder, die gerade üben trocken zu werden, gar nicht so lange einhalten können. Vielleicht hatte das Kind schon mehrere Wechselwäschen durchgepullert an dem Tag? Vielleicht ist es schon den ganzen Tag frustriert darüber, dass es sich zwar bemüht zu bemerken, wenn es mal muss, aber es klappte nie? Vielleicht war das nächste Café einfach grundsätzlich zu weit weg für ein Kind, das mal muss? Vielleicht sind die Cafébesitzer extrem unfreundlich zu Eltern und Kindern, die mal auf die Toilette gehen wollen? Vielleicht werden Eltern blöd angeschaut, wenn sie mit dem Kind auf die Toilette gehen wollen. Nicht nur, dass Nicht-Gäste eine Obolus zu zahlen haben (was ich ja noch verstehe), sondern auch, dass genervt geschaut und gezischt wird. Das kann nicht jeder ab, schon gar nicht an einem stressigen Tag mit bereits mehrfach durchgepullerter Wäsche. Vielleicht gibt es auch eine ganz andere Dringlichkeit, wer weiß?
All das bedenken manche Menschen, die keinen oder kaum Kontakt zu Kindern haben nicht. Weil es in ihrem Leben nicht vorkommt und sie Kinder und ihre Bedürfnisse ganz bequem ausblenden können. Diese Kinder und ihre Bedürfnisse sind aber trotzdem da und haben ihre Berechtigung. Tatsächlich, Kinder gehören in unsere Gesellschaft und in diese Welt.
Kinder werden, im Gegenteil, zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Es scheint sehr oft das Verständnis für Kinder und ihre Eltern zu fehlen. Und zwar nicht nur deshalb, weil im Vergleich zu früher weniger Kinder in der Gesellschaft leben, sondern auch, weil Kinder zunehmend nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sein haben.
Es gibt kaum noch Kinder auf der Straße, bzw. auf den Gehwegen. Aus den Hinterhöfen von früher sind Parkplätze geworden oder sie wurden ganz abgerissen. Es gibt kaum noch öffentlichen Raum, in dem Kinder einfach mal so spielen dürfen und sein können. Nein, Kinder haben in der Kita, in der Schule, auf dem Schulhof oder Spielplatz zu sein – weg vom üblichen öffentlichen Leben. Dass diese Beobachtung zunehmend eine Rolle spielt, erkennt man auch daran, dass selbst Ausflugscafés extra Bereiche für Kinder einrichten, damit die anderen Gäste (angeblich) nicht mehr von ihnen gestört werden oder dass es Hotels gibt, in denen Kinder unter einem bestimmtem Alter nicht aufgenommen werden. Vermutlich gibt es noch mehr solcher Beispiele dafür.
Insgesamt gibt es zwar viel mehr Angebote für Kinder und Familien wie Kinder-Eltern-Cafés, Freizeitkurse etc., aber eine immer kleinere Selbstverständlichkeit dafür, dass Kinder (und ihre Eltern dementsprechend) anders ticken als Erwachsene.
Übrigens hat man früher die Bedürfnisse von Kindern deutlich weniger ernst genommen. Kinder hatten früher eher zu gehorchen als sich frei entwickeln zu können. Tatsächlich vermute ich, dass auch aufgrund einer respektvolleren Auffassung von Erziehung keine leisen, folgsamen und gedrillten Kinder mehr dabei heraus kommen (das hoffe ich sogar) und folglich Kinder anders auffallen, als das kulturell erlernt ist.
Dass Kinder und Jugendliche erst lernen müssen, wie sie sich in schicken Restaurants zu benehmen haben, steht außer Frage. Das klappt aber bei vielen Kindern nicht mehr im gleichen jungen Alter, wie das früher mit Drill und Drohungen anscheinend möglich war. Das mal so als These.
Ich kenne solche Anfeindungen und Kommentare wie unter bestimmten Facebook-Posts nicht aus meinem Umfeld. Außerdem finde ich, dass man zwischen Hate-Speech im Internet und den Reaktionen aus dem sogenannten analogen Leben unterscheiden muss. Es gibt tatsächlich eine gesellschaftlich relevante Debatte zwischen Eltern und Kinderlosen, zwischen Familien und Politik, aber die fußt weder auf dem Hate-Speech aus dem Netz noch lassen sich ernsthaft inhaltlich relevante Parallelen ziehen.
Übrigens, ich habe nichts gegen kinderlose Leute, ich war selbst 35 Jahre kinderlos und kann mich auch gut daran erinnern, was ich über das Kinder haben dachte. Menschen wie beispielsweise Sarah Kuttner dürfen Kinder (und ihre Eltern) auch nicht mögen. Das ist ok. Ich mag auch nicht alle. Schade ist nur, wenn aus purer Ignoranz geschimpft wird, obwohl man es ganz leicht besser wissen könnte.
Achso, was aus dem dpa-Text wurde, kann man mit einem Mini-Satz von mir unter anderem in der Welt nachlesen und mit einem ausführlich und inhaltlich gut wiedergegebenen Statement in der Berliner Zeitung.
<3
Hallo Sonja,
vorhin hatte ich schon den Artikel in der Berliner Zeitung gesehen und jetzt bin ich ganz froh, Deine gesamten Ausführungen dazu gelesen zu haben. Du hast so recht! Wie oft wird schnell verurteilt, ohne Hintergründe, Beweggründe oder sonstige Umstände anzuschauen. Das ist ja nicht nur bei an Bäume pinkelnden Kindern so.
Ich freue mich zugleich über all die vielen, die meine Kinder und mich in so vielen Situationen schon spontan unterstützt oder auch nur angelächelt haben und damit zeigen, dass Kinder sehrwohl in die Öffentlichkeit gehören.
Viele Grüße
Svenja
Gerne gelesen!
Hallo,
Vielen Dank für den ausführlichen Artikel. Ich hatte von der ganzen Sache nichts bekommen aber stimme vollkommen der Antwort zu!
Nur bei einem fühle ich mich immer etwas blöd: Meine Tochter (jetzt 2,5) gehört wahrscheinlich zu den Kindern von denen ein Aussenstehender z. B. im Restaurant denken kann, sie sei „gedrillt“ weil leise, gerne mit Erwachsenen am Tisch und ausser Haus eher auffällig „höflich“. Gedrillt ist sie aber nicht. Wir wohnen in einer Grossstadt (Paris) und sind viel unterwegs. Sie ist gerne diskret und nimmt von klein an spontan auf die anderen Rücksicht. In der Kita, in der sie betreut wird, seit sie 4 Monate alt ist, ist es nicht anders, auch wenn die Erzieherinnen sind auch dazu aufmuntern, ihren Platz einzunehmen..
Also um mich „kurz“ zu fassen: Ich freu mich über in der Öffentlichkeit singende, spielende, schreiende oder weinende Kinder, aber die anderen Kinder (und die zwei Kategorien überschneiden sich selbstverständlich!) haben nicht zwingend strengere Eltern.
Liebe Grüsse.
Das stimmt natürlich und es ist richtig, das noch einmal zu betonen. Selbstverständlich ist nicht jedes ruhige Kind „gedrillt“. Das habe ich damit auch nicht sagen wollen. LG Sonja
Vorlauter Gepinkel hab ich nur noch gelesen:“Es gibt kaum noch einen öffentlichen Baum …“
Es ist wohl leider nötig kindliche und mütterliche Bedürfnisse immer mal wieder in Erinnerung zu bringen, aber mir ist inzwischen, nach 19 Jahren Mutterschaft hinter mir und noch mindestens 15 vor mir und 4 Kindern, nicht nur helikoptern zu anstrengend sondern auch meine Rechtfertigung als Mutter warum ich wo, wie, welche Kinder bekommen oder nicht bekommen, gestillt, getragen, trocken gelegt oder habe laufen lassen ^.-
Inzwischen ist mir Konrad Adenauer geradezu ans Herz gewachsen: „Ich bin wie ich bin. Die einen kennen mich, die anderen können mich.“
Guten Abend ^.-
Sonja Sonnenschein